Leitsatz (amtlich)
1. In der Gewährung einer Rente als vorläufige Entschädigung im Wege der Gesamtvergütung liegt nicht gleichzeitig die Ablehnung einer Dauerrente
2. Wird der Bescheid über die Gesamtvergütung hinsichtlich der Höhe der MdE angegriffen, ist das Widerspruchsverfahren durchzuführen. Eine Umdeutung in einen Weiterzahlungsantrag scheidet aus.
3. Nur wenn der Gesamtvergütungszeitraum im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung bereits abgelaufen ist, darf die Widerspruchsbehörde über eine Weiterzahlung entscheiden. Andernfalls ist hierfür die Ausgangsbehörde zuständig.
4. § 75 Satz 2 SGB VII ist keine abweichende Vorschrift im Sinne des § 19 Satz 2 SGB IV. Die Gewährung von Verletztenrente ist deshalb auch nach dem Gesamtvergütungszeitraum nicht antragsabhängig. Es müssen aber Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein weitergehender Anspruch bestehen könnte. Ermittlungen ins Blaue hinein bedarf es nicht.
5. Ein Bescheid über die weitere Verletztenrentengewährung nach der Gesamtvergütung betrifft einen nachfolgenden Zeitraum und wird nicht nach §§ 153, 96 SGG Gegenstand des Verfahrens.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. Oktober 2022 abgeändert und die Klage vollumfänglich abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Gewährung einer Verletztenrente als Gesamtvergütung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vom Hundert (v. H.) nach einem Arbeitsunfall des Klägers vom 12. Juli 2019, bei dem er sich an einem Hubwagen das rechte Bein verletzte und sich eine mehrfragmentäre Unterschenkelfraktur zuzog.
Der Kläger ist 1973 in Syrien geboren, hat dort 9 Jahre die Schule besucht und danach erst im Lebensmittelgroßhandel seines Vaters mitgearbeitet, bevor er eine eigene Firma gründete. 2015 floh er zunächst mit seiner Tochter nach Deutschland, die übrige Familie, drei weitere Kinder und die Ehefrau, zog später nach. Seit Anfang 2019 war er vollschichtig als „Metallhelfer“ tätig und verrichtete eine körperlich leichte Tätigkeit bei der Verarbeitung von Blechen. Das befristete Arbeitsverhältnis wurde nach dem Unfall nicht verlängert, einer Beschäftigung ist der Kläger seitdem nicht mehr nachgegangen. Die Ehefrau hat zeitweise als Schneiderin gearbeitet und ist derzeit ebenfalls arbeitslos. Die Familie bewohnt eine 100 qm große Wohnung im zweiten Obergeschoss ohne Aufzug. Die Einkäufe des täglichen Bedarfs erledigt er im Umkreis von circa 500 Metern um die Wohnung, dazu benutzt er oft sein Fahrrad (vgl. Anamnese H1).
Der Arbeitgeber gab in der Unfallanzeige an, dass der Kläger am 12. Juli 2019 damit beauftragt gewesen sei, eine Krantraverse zu transportieren. Dazu sei die Krantraverse am Kran mittels Haken zu befestigen. Der Kläger habe entgegen der Anweisung versucht, die Krantraverse mit der Hand auf die Zinken der Ameise zu legen. Dabei sei ihm diese abgerutscht und er habe sich eine Verletzung am Waden- und Schienbein zugezogen.
Der Durchgangsarztbericht des H2, Klinikum C1, beschrieb einen immobilen und schmerzhaft blutenden Unterschenkel. Es bestehe eine komplette Unterschenkelfraktur rechts mit offenem Weichteilschaden Grad I, zur operativen Versorgung sei die Verlegung ins D1-Klinikum H3 erfolgt.
Dort wurde der Kläger vom 12. bis 25. Juli 2019 stationär behandelt. Bei Aufnahme habe eine 5 mm offene Wunde am medialen distalen Unterschenkel, am ehesten im Rahmen einer Durchspießung durch Tibiafragment bestanden. Das Röntgen zeige eine mehrfragmentäre Unterschenkelfraktur (vgl. Durchgangsarztbericht H4). Es sei eine offene Reposition der Fibulafraktur und Osteosynthese mit 10-Loch-Drittelrohrplatte als Überbrückungsosteosynthese durchgeführt worden. Nach dem operativen Eingriff habe sich die Hautnekrose am Innenknöchel zunehmend demarkiert, die Indikation zur Lappenplastik haben bestanden. Wegen dieser Befundverschlechterung bei der komplexen Verletzung sei die Verlegung in die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik (BGU) L1 erfolgt.
Der Entlassungsbericht der BGU L1 beschrieb einen posttraumatischen Haut-/Weichteildefekt nach erstgradig offener distaler Unterschenkelfraktur. Es sei ein orientierendes Debridement sowie eine Abstrich- und Gewebeprobenentnahme mit anschließender histologischer und mikrobiologischer Untersuchung erfolgt. Die mikrobiologischen Untersuchungen des Gewebes hätten nach Bebrütung kein Wachstum von Erregern gezeigt. Der postoperative Verlauf habe sich regelrecht gestaltet.
Der Kläger habe auf stationärer Ebene an Unterarmgehstützen unter physiotherapeutischer Begleitung mobilisiert werden können. Danach habe nach Abschluss des Lappentrainings der unfallchirurgisch indizierte Vacoped-Schuh wieder angelegt werden können. Eine Entlastung für sechs Wochen sei indiziert, eine funktionelle Beübung dabei möglich. Anschließend könne zunächst eine Teilbelastung von 20 kg und dann eine Aufbelastung von 10 kg pro Woche erfolgen. Engm...