Leitsatz
Wenn ein Arbeitgeber die Lohnsteuer trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht anmeldet und abführt, kann das Finanzamt sie durch Schätzungsbescheid festsetzen. Die Möglichkeit, einen Haftungsbescheid zu erlassen, steht nicht entgegen.
Normenkette
§ 38 Abs. 2 EStG , § 41a Abs. 1 EStG , § 42d EStG , § 155 Abs. 1 AO , § 167 Abs. 1 AO
Sachverhalt
Die Klägerin, eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Ausland, übernahm u.a. die Fleischbearbeitung in inländischen Schlachthöfen mit eigenem Personal und schloss zu diesem Zweck Werkverträge ab. LSt-Anmeldungen gab die Klägerin im Inland nicht ab.
Das FA vertrat die Auffassung, die Klägerin sei inländische Arbeitgeberin und zur Einbehaltung von LSt verpflichtet. Es schätzte die LSt für die eingesetzten Arbeitnehmer und erließ entsprechende LSt-Bescheide.
Das FG vertrat die Auffassung, der Erlass eines Steuerbescheids sei nicht zulässig. Im Fall einer unterlassenen LSt-Anmeldung könne nur ein Haftungsbescheid (§ 42 d EStG) ergehen.
Entscheidung
Auf die Revision des FA hob der BFH die Vorentscheidung auf und verwies die Sache an das FG zurück. Der Erlass eines Steuerbescheids (Schätzungsbescheids) sei zulässig, wenn ein Arbeitgeber seiner LSt-Entrichtungsschuld nicht nachkomme. Die Möglichkeit, einen Haftungsbescheid zu erlassen, stehe dem nicht entgegen. Die Sache sei jedoch nicht spruchreif. Das FG werde Feststellungen zum Vorliegen einer inländischen Betriebsstätte bzw. eines inländischen Vertreters nachzuholen haben.
Hinweis
1. Im Streitfall war das FA zu der Auffassung gelangt, die (ausländische) Klägerin sei als Arbeitgeberin verpflichtet gewesen, LSt anzumelden, einzubehalten und abzuführen. Zur Durchsetzung des LSt-Anspruchs erließ das FA einen "Nachforderungsbescheid" (Steuerbescheid) gegenüber der Klägerin. Den Erlass eines Haftungsbescheids hielt das FA nicht für erforderlich.
2. Das Verhältnis von Nachforderungsbescheid (§ 167 AO) und Haftungsbescheid (§ 42d EStG) ist – auch was die LSt betrifft – dogmatisch noch nicht in allen Einzelheiten geklärt. In erheblichem Umfang liegt dies auch an der unsauberen terminologischen und dogmatischen Arbeit des Gesetzgebers bzw. der unzureichenden Abstimmung zwischen den Vorschriften der AO und des EStG (vgl. Tipke-Kruse, § 167 AO Tz. 9).
3. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dem FA stehe kein (uneingeschränktes) Wahlrecht zwischen Nachforderungsbescheid und Haftungsbescheid zu; das Verschuldenserfordernis und damit die strengeren Voraussetzungen bei der (LSt-)Haftung (§ 42d EStG) dürften nicht ausgehöhlt werden.
4. In materiell-rechtlicher Hinsicht ist zu beachten, dass der Arbeitnehmer nach § 38 Abs. 2 EStG Schuldner der LSt ist; beim Einbehalt und der Abführung der LSt erfüllt der Arbeitgeber deshalb eine fremde Schuld (Möglichkeit der Arbeitgeber-Haftung – § 42d EStG). Andererseits obliegen dem Arbeitgeber eigene Verpflichtungen (§ 38 Abs. 3 EStG: LSt-Einbehaltungspflicht; § 41a EStG: Anmeldungs- und Abführungspflicht). Insoweit ist der Arbeitgeber "Entrichtungssteuerschuldner" (Steuerschuldner eigener Art). Die Entrichtungssteuerschuld kann dabei definiert werden als eine Steuer, die ein Dritter, der nicht Steuerschuldner ist, für Rechnung des Steuerschuldners einbehalten und abführen (entrichten) muss.
5. Die Besprechungsentscheidung war in gewisser Weise durch die Entscheidung des BFH vom 13.9.2000, I R 61/99, BFH-PR 2001, 50 vorgezeichnet. Der I. Senat hatte in dieser Entscheidung (zur Kapitalertragsteuer) bereits eingehend begründet, dass das FA anstelle eines Haftungsbescheids einen Nachforderungsbescheid nach § 167 Abs. 1 AO erlassen könne, wenn der Steuerpflichtige keine Anmeldung abgibt (zur Entrichtungssteuerschuld: vgl. auch BFH, Urteil vom 23.8.2000, I R 107/98, BFH-PR 2001, 31).
6. Der VI. Senat hat sich zu der hier anstehenden Frage, ob das FA – (jedenfalls) bei Nichtabgabe einer LSt-Anmeldung – einen Nachforderungsbescheid erlassen könne, dem I. Senat angeschlossen. Maßgebend hierfür war ebenfalls, dass in der Regelung des § 167 Abs. 1 Satz 1 AO ausdrücklich auch der Haftungsschuldner (als Entrichtungsschuldner) erwähnt wird. Zudem steht u.a. nach § 168 Satz 1 AO die (LSt-)Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich; das Steueranmeldungs-Verfahren stellt also ein abgekürztes Festsetzungsverfahren dar.
7. In der Gesetzesbegründung zu § 167 Abs. 1 Satz 1 AO (StRefG 1990) ist zur Klarstellung angeführt, "dass der Steuerpflichtige auch dann im Weg einer Steuerfestsetzung und nicht lediglich im Weg eines Haftungsbescheids in Anspruch genommen werden kann, wenn er die Steuer für Rechnung eines anderen einzubehalten hat und dies nicht oder nicht ordnungsgemäß tut". Der Gesetzgeber ging also davon aus, dass insofern Haftungs- und Entrichtungsschuld nebeneinander bestehen.
8. Ungeachtet dieses rechtlichen Ergebnisses kann schließlich nicht übersehen werden, dass die abweichende Meinung (nur Haftungsbescheid zulässig) geradezu eine Belohnung gesetzwidrigen Verhaltens dargestellt...