Leitsatz
1. Die Inanspruchnahme des Sonderausgabenabzugs für eine zusätzliche Altersvorsorge gemäß § 10a EStG steht im Wahlrecht des Steuerpflichtigen. Dieses Wahlrecht muss nicht zwingend durch Abgabe der Anlage AV zur Einkommensteuererklärung ausgeübt werden, sondern kann auch formlos geltend gemacht werden.
2. Die Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO i.V.m. § 10a Abs. 5 Satz 2, § 10 Abs. 2a Satz 8 Nr. 1 EStG in der bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2016 geltenden Fassung kommt nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige den Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG erstmals nach Eintritt der materiellen Bestandskraft begehrt.
Normenkette
§ 10a Abs. 1 und 2, §§ 79ff. EStG, § 10 Abs. 2a Satz 8 Nr. 1, § 10a Abs. 5 Sätze 1 und 2 EStG a.F., § 129 Satz 1, § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d, § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AO
Sachverhalt
Die Klägerin hatte Beiträge in einen sog. Riestervertrag geleistet und hierfür die entsprechenden Zulagen erhalten. Der ESt-Bescheid für das Streitjahr, in dem mangels ihres Antrags der Sonderausgabenabzug für Altersvorsorgebeiträge gemäß § 10a EStG nicht berücksichtigt wurde, wurde bestandskräftig. Erst später begehrte die Klägerin nachträglich den Sonderausgabenabzug gemäß § 10a EStG und führte an, das FA habe die vom Anbieter des Altersvorsorgevertrags übermittelten Beiträge und Zulagen zu Unrecht nicht berücksichtigt. Das FA lehnte eine Änderung ab. Eine Günstigerprüfung für den Sonderausgabenabzug nach § 10a Abs. 2 EStG erfordere einen Antrag, der – was die Klägerin versäumt habe – in Form der Anlage AV zur ESt-Erklärung hätte gestellt werden müssen.
Das FG wies die dagegen gerichtete Klage ab (FG Köln, Urteil vom 15.5.2020, 5 K 2350/19, Haufe-Index 14374704, EFG 2021, 1369).
Entscheidung
Die Revision der Klägerin hatte aus den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen keinen Erfolg.
Hinweis
1. Die steuerliche Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge durch die sog. Riester-Rente besteht aus der Kombination von einer progressionsunabhängigen Zulage und einem zusätzlichen jährlichen Sonderausgabenabzugsbetrag von bis zu 2.100 EUR. Vorrangig werden die Vorsorgeaufwendungen des Förderberechtigten mit der staatlichen Zulage prämiert. Der alternative progressionsabhängige Sonderausgabenabzug nach § 10a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 EStG kommt nur in Betracht, wenn dieser im Einzelfall günstiger ausfällt als der Anspruch auf die Altersvorsorgezulage. In diesem Fall erhöht sich die unter Berücksichtigung des Sonderausgabenabzugs ermittelte tarifliche ESt um den Anspruch auf Zulage (§ 10a Abs. 2 Satz 1 EStG); die Günstigerprüfung wird gemäß Satz 3 der Vorschrift von Amts wegen vorgenommen.
2. Auch wenn der Gesetzeswortlaut insoweit nicht eindeutig ist, ist der Sonderausgabenabzug gemäß § 10a EStG als Wahlrecht des Steuerpflichtigen konzipiert. Grund dafür ist, dass der Sonderausgabenabzug nicht nur vorteilhafte Rechtsfolgen nach sich ziehen kann.
3. Die Ausübung dieses Wahlrechts bedarf keiner besonderen Form; es kann ausdrücklich oder auch nur konkludent geltend gemacht werden. Nicht ausreichend ist allerdings die früher notwendige Einwilligung in eine Datenübermittlung des Anbieters eines Altersvorsorgevertrags. Der BFH teilt ausdrücklich nicht die in dem BMF-Schreiben vom 21.12.2017, IV C 3 – S 2015/17/10001:005, Rz. 101, BStBl I 2018, 93, vertretene Ansicht der Finanzverwaltung, der Sonderausgabenabzug nach § 10a EStG müsse durch Abgabe der Anlage AV zur ESt-Erklärung beantragt werden. Ein solches Formerfordernis ergibt sich weder aus § 10a EStG selbst noch aus einer anderen gesetzlichen Grundlage.
4. Das Wahlrecht muss der Steuerpflichtige zwar nicht notwendig bereits im Rahmen der Steuererklärung ausüben; es ist allerdings grundsätzlich nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids erstmals oder in geänderter Weise ausübbar. Der Steuerpflichtige kann somit frei über das Wahlrecht verfügen, wenn der Bescheid noch nicht formell bestandskräftig und deshalb ohnehin abänderbar ist. Die Ausübung des Wahlrechts ist ebenfalls möglich, solange der Bescheid noch nicht materiell bestandskräftig ist.
5. Gleiches gilt, wenn ein erstmals oder anderweitig nach Eintritt der materiellen Bestandskraft des Steuerbescheids ausgeübtes Wahlrecht die Voraussetzungen einer bestandskraftdurchbrechenden Änderungsvorschrift erfüllt.
6. Als spezielle Änderungsnorm könnte § 10a i.V.m. § 10 Abs. 2a Satz 8 EStG a.F. (jetzt § 175b AO i.V.m. § 93c AO) in Betracht kommen. Der Gesetzeswortlaut fordert aufgrund des Adverbs "hierdurch" allerdings einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den vorliegenden Daten und der sich durch deren nachträgliche Berücksichtigung ergebenden Änderung der festgesetzten Steuer. Dieser unmittelbare Zusammenhang ist nicht gegeben, wenn die Änderung der bisher festgesetzten Steuer nicht nur von dem Vorliegen relevanter Daten, sondern zusätzlich von der Ausübung eines Wahlre...