Leitsatz
Erhält das verheiratete Kind eines Kindergeldberechtigten von seinem getrennt lebenden Ehegatten keine Unterhaltszahlungen, so darf der Unterhaltsanspruch nicht als Bezug i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG berücksichtigt werden (entgegen Abschn. 31.2.2. Abs. 6 Satz 3 DA-FamEStG 2010).
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Sätze 1 und 2, § 8 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG, § 1360, § 1360a, § 1608 Satz 1 BGB
Sachverhalt
Die seit August 2001 verheiratete Tochter des Klägers befand sich bis September 2003 in Ausbildung. Im August 2002 trennte sie sich von ihrem Ehemann und im April 2005 wurde die Ehe geschieden. Der Ehemann zahlte den titulierten Unterhalt zunächst nicht. Erst Ende 2005 erhielt sie nach Zwangsvollstreckungsmaßnahmen 4.500 EUR.
Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 auf.
Das FG gab der Klage statt (Hessisches FG, Urteil vom 11.12.2007, 3 K 3174/05, Haufe-Index 1967043, EFG 2008, 628). Es führte aus, der (nicht realisierte) Unterhaltsanspruch sei nicht als Bezug anzusetzen und die spätere Unterhaltszahlung zum Ende des Jahres 2005 habe auf den streitigen Zeitraum Januar bis September 2003 keine Auswirkung.
Entscheidung
Der BFH sah dies ebenso und wies die Revision durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zurück (§ 126a FGO).
Hinweis
Es geht wieder einmal um den 2011 ausgelaufenen Jahresgrenzbetrag für die Einkünfte und Bezüge von Kindern.
1. Verheiratete Kinder werden wegen der vorrangigen Unterhaltspflicht des Ehegatten nicht berücksichtigt, sofern nicht ein sog. Mangelfall vorliegt und die Einkünfte und Bezüge des Kindes einschließlich der als Bezug anzusetzenden Unterhaltsleistungen des Ehepartners den Grenzbetrag nicht überschreiten.
2. Da sich die tatsächlichen Zuwendungen zwischen zusammenlebenden Eheleuten nicht aufklären lassen, unterstellt der BFH, dass die vorhandenen Mittel geteilt werden und dem Kind somit Unterhaltsleistungen in Höhe der Hälfte der Differenz zwischen den Einkünften des unterhaltsverpflichteten Ehepartners und seinen geringeren eigenen Mitteln zufließen, soweit dem Ehepartner ein verfügbares Einkommen i.H.d. steuerrechtlichen Existenzminimums verbleibt (BFH, Urteil vom 7.4.2011, III R 72/07, BFH/NV 2011, 1754, BFH/PR 2011, 416).
3. Bei getrennt lebenden (oder geschiedenen) Ehegatten bedarf es keiner derartigen Fiktion, weil die Unterhaltsleistungen dem Grunde und der Höhe nach bestimmt werden können. Daher sind sie – wie andere Bezüge auch – mit ihrem Zufluss zu erfassen. Wird der geschuldete Unterhalt nicht oder erst in einem Folgejahr geleistet, so kann er auch nicht als Bezug angesetzt werden.
4. Die Nichtgewährung oder Verspätung des Unterhalts wäre unbeachtlich, wenn das Kind auf die Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs verzichtet hat (§ 32 Abs. 4 Satz 9 EStG a.F.).
5. Eine verspätete Zahlung innerhalb des Jahres (z.B. Ausbildungsabschluss im Oktober, Nachzahlung des Unterhalts für Januar bis Dezember im Dezember) hätte keine Auswirkungen auf die Grenzbetragsberechnung, da die innerhalb eines Kalenderjahrs zugeflossenen Bezüge wirtschaftlich zuzuordnen sind (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG a.F.).
6. Können verheiratete Kinder nach dem Wegfall der Grenzbetragsregelung durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 noch berücksichtigt werden? Wenn es bei dem Grundsatz der Nichtberücksichtigung bleibt, wäre dies zu verneinen, weil der "Mangelfall" keine gesetzliche Grundlage mehr hat. Eine ausnahmslose Benachteiligung der Eltern wegen der Eheschließung ihres Kindes erscheint aber im Hinblick auf Art. 6 GG zumindest problematisch. Außerdem hat der BFH seine Rechtsprechung, wonach das Vorliegen einer typischen Unterhaltssituation ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Berücksichtigungstatbestände in § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG sei, bereits durch Urteil 17.6.2010, III R 34/09 (BFH/NV 2010, 1908, BFH/PR 2010, 431) aufgegeben.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 22.12.2011 – III R 8/08