Die Disziplin gewinnt umso stärker an Bedeutung, je weniger Menschen sich für offene Stellen bewerben. In Zeiten eines Arbeitgebermarkts war das Thema noch wenig diskutiert, die meisten Personaler hatten ihre persönlichen Methoden zur Auswahl. Die waren mal mehr, mal weniger systematisch, manchmal auch mit esoterischem Hintergrund.
Warum aber ist die Frage der Eignung wichtiger, wenn es weniger Bewerber gibt? Man könnte meinen (und viele Führungskräfte vertreten diese Ansicht), dass keine Auswahlmethoden benötigt werden, wenn man froh sein muss, überhaupt Bewerber zu finden.
Zur Veranschaulichung ein rein hypothetisches Szenario: Arbeitsplätze sind knapp, viele Bewerber brauchen viele Versuche, bis sie eine Stelle finden. In der Stellenanzeige wurde ein Minimum an Qualifikationen gefordert (Schulabschluss, Berufsausbildung, Berufserfahrung). Viele Bewerber erfüllen diese Anforderungen. Von 10 Bewerbern soll eine Person blind ausgewählt werden. Das eignungsdiagnostische Instrument ist also ein Würfel. Die Wahrscheinlichkeit eines Fehlgriffs ist dabei gering, denn von 10 wahrscheinlich geeigneten Personen wird eine ausgewählt.
Nun eine andere Situation: Es gibt kaum Bewerber, die Eingangsvoraussetzungen für die Stellenanzeigen werden heruntergefahren, damit überhaupt noch Bewerbungen eingehen. Wieder soll eine von 10 Personen blind ausgewählt werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Fehlgriffs ist deutlich höher, denn von 10 Personen mit geringerer Eignung wird eine ausgewählt.
Einfach ausgedrückt: Gibt es viele geeignete Bewerber, kann gewürfelt werden. Muss aus einer Gruppe von weniger geeigneten Bewerbern eine geeignete Person gefunden werden, dann sind Methoden notwendig, um die Eignung festzustellen.
Fehler erster und zweiter Art
Es gibt zwei Arten von Fehlern in einer Einstellungsentscheidung. Der Fehler erster Art dürfte im Vergleich zum Fehler zweiter Art den meisten bekannt sein. Um ihn zu vermeiden, wird viel Energie aufgewendet. Den Fehler zweiter Art haben dagegen nur wenige auf dem Schirm. Wie kommen die beiden Fehler zustande?
Die Einstellungsentscheidung ist eine Prognose. Es wird prognostiziert, dass eine Person in Zukunft im Unternehmen erfolgreich arbeiten wird. Aus dem Grund wird sie eingestellt. Alternativ wird prognostiziert, dass die Person für die Stelle ungeeignet ist, sodass sie nicht eingestellt wird.
Nach der Einstellung kann festgestellt werden, ob die Prognose zutreffend war:
- Fall 1: Es wurde prognostiziert, dass die Person erfolgreich arbeitet – und das tut sie auch.
- Fall 2: Es wurde prognostiziert, dass die Person erfolgreich arbeitet, welche sich im Nachhinein jedoch als ungeeignet erweist.
Fall 2 ist der Fehler erster Art. Personalverantwortliche fürchten ihn, denn dieser Fehler untergräbt das Vertrauen der Führungskräfte in ihre Entscheidungsfähigkeit.
Doch was passiert, wenn eine Person als ungeeignet angesehen und nicht eingestellt wird? Auch dann kann die Prognose richtig oder falsch sein.
- Fall 3: Es wurde entschieden, dass eine Person ungeeignet ist und sie ist tatsächlich nicht geeignet.
- Fall 4: Es wurde entschieden, dass die Person ungeeignet ist, in Wirklichkeit wäre sie aber eine Top-Kraft für genau die Stelle gewesen.
Fall 3 ist wieder ein Glanzlicht der Personalarbeit: Es wurde erfolgreich verhindert, dass das Unternehmen einen Blender einstellt. Vielleicht haben andere die Person als besonders geeignet dargestellt, aber durch eine kluge Analyse konnte festgestellt werden, dass die großartigen Zeugnisse gefaked waren.
Fall 4 ist der Fehler zweiter Art, welcher nur sehr selten bemerkt wird. Wie oft bloß die zweitbeste Person eingestellt wurde, erfährt man kaum oder nie.
Solange sich genügend gute Bewerber auf dem Personalmarkt befinden, kann der Fehler zweiter Art ignoriert werden. Gegebenenfalls muss mit Bewerber Nummer 2 anstelle Nummer 1 vorliebgenommen werden. Solange jedoch keine ungeeigneten Bewerber eingestellt werden (Fehler erster Art), bleibt dies ohne gravierende Auswirkungen.
Eignungsdiagnostik in Zeiten guter Bewerberlage kann man auf einfache Methoden reduzieren: Ausreichend ist die Schaffung einer ausreichend hohen Hürde für die Qualifikation der Bewerber.
Doch die wenigsten Unternehmen genießen diesen Luxus heutzutage. Die meisten Recruiter sind aktuell darauf angewiesen, "Hidden Champions" zu finden, also Bewerber, die auf den ersten Blick nicht unbedingt geeignet erscheinen, sich bei näherem Hinsehen aber als wahre Diamanten herausstellen. Hier scheidet sich auch unter Recruitern die Spreu vom Weizen: Wer schaut stumpf nur auf die offensichtlichen Kriterien? Wer erkennt Qualitäten jenseits des Offensichtlichen?