Anmerkung zum Vorlagebeschluss des FG Münster vom 27.6.2022
[Ohne Titel]
RA StB Georg von Streit / RA FAStR Dr. Thomas Streit, LL.M. Eur
Der sog. Reemtsma-Anspruch ist seit vielen Jahren fester Bestandteil der Rechtsprechung, eine gesetzliche Regelung steht in Deutschland allerdings nach wie vor aus. Das FG Münster legt dem EuGH nun Fragen vor, mit denen es einzelne der vielen ungeklärten Details i.Z.m. dem Reemtsma-Anspruch klarstellen lassen will. Insbesondere geht es um die Anspruchskonkurrenz zwischen der Steuerberichtigung nach § 14c UStG und dem Reemtsma-Anspruch. Ein wichtiger Beschluss mit evtl. weitreichenden Folgen für das nationale Verständnis der Mehrwertsteuer.
I. Der Reemtsma-Anspruch
1. EuGH v. 15.3.2007
Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde: Vor nunmehr etwas mehr als 15 Jahren entschied der EuGH, dass sich aus den Grundsätzen des Mehrwertsteuerrechts, insbesondere dem Effektivitätsgrundsatz, für den Empfänger einer Dienstleistung ein (direkter) Erstattungsanspruch – der sog. Reemtsma-Anspruch – gegen die Finanzverwaltung ergebe, wenn er zu Unrecht Mehrwertsteuerbeträge an den Leistenden gezahlt hat, sein Geld später aber von diesem nicht mehr zurückbekommen kann. Zwar müsse der Leistungsempfänger zunächst versuchen, das Geld vom Leistenden wiederzuerlangen. Sei dies aber "unmöglich oder übermäßig erschwert" könnten es die Grundsätze des Mehrwertsteuerrechts gebieten, dass der Leistungsempfänger einen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann. Die Mitgliedstaaten müssten die erforderlichen Mittel vorsehen, die es ihm ermöglichten, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen.
2. Nationale Rechtsprechung
Dieser Anspruch war in der Folge Gegenstand diverser Urteile der FG und des BFH.
a) Einzelne FG
Nach Ansicht mancher FG kein Anspruch im dt. Recht: Bisweilen gab es hierbei überraschende Urteile. So etwa als einzelne Gerichte entschieden, es finde sich im nationalen Recht keine Rechtsgrundlage für einen solchen Erstattungsanspruch, so dass er – zumindest für Inlandssachverhalte – abzulehnen sei.
Unionsrechtlicher Anspruch: Die Gerichte übersahen dabei allerdings, dass der Anspruch als solcher sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt. Die Mitgliedstaaten sind zwar im Grunde genommen verpflichtet, entsprechende Regelungen im nationalen Recht vorzusehen (Umsetzung). Tun sie das nicht, heißt das aber nicht, dass der Anspruch nicht besteht. Die Steuerpflichtigen können sich vielmehr zu ihren Gunsten unmittelbar auf das Unionsrecht berufen.
Widerspruch zur innerstaatlichen Rechtsordnung: Wenn außerdem auch darauf hingewiesen wurde, Reemtsma-Ansprüche stünden in Widerspruch zur innerstaatlichen Rechtsordnung, machte dies lediglich die Fragen deutlich, die sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber seit 15 Jahren nicht tätig geworden ist. Unter anderem gerade deswegen muss die Finanzverwaltung (der Gesetzgeber) die Ansprüche gesetzlich regeln – und zwar so, dass sie mit der innerstaatlichen Rechtsordnung kompatibel sind. Eine eventuelle Inkompatibilität wäre nicht die Schuld des Reemtsma-Anspruchs, sondern der mangelnden Umsetzung im nationalen Recht und des Abgleichs mit anderen Vorschriften (z.B. mit dem insolvenzrechtlichen Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung). Bei einer Umsetzung im nationalen Recht wäre allerdings zu beachten, dass die nationalen Vorschriften nicht einen unionsrechtlich begründeten (Reemtsma-)Anspruch einschränken können.