Für Zwecke der Grundbesitzbewertung gibt es im BewG keine allgemeinen – "vor die Klammer gezogenen" – Regelungen zur Bestimmung der Restnutzungsdauer. Die Ermittlung der Restnutzungsdauer ist für das (1.) Ertragswertverfahren in § 185 Abs. 3 Satz 3 ff. BewG und für das (2.) Sachwertverfahren in § 190 Abs. 6 Satz 2 ff. BewG jeweils gesondert geregelt. Die Regelungen entsprechen jedoch einander. Für das Vergleichswertverfahren nach § 183 BewG gibt es keine Regelungen zur Restnutzungsdauer.
1. Ertragswertverfahren (§§ 184 bis 188 BewG)
Die Restnutzungsdauer ergibt sich grundsätzlich aus dem Unterschiedsbetrag der Gesamtnutzungsdauer nach Anlage 22 BewG und dem Alter des Gebäudes am Bewertungsstichtag (§ 185 Abs. 3 Satz 3 BewG). § 185 Abs. 3 Satz 3 entspricht § 4 Abs. 3 Satz 2 ImmoWertV. Die Gesamtnutzungsdauern der Anlage 22 BewG wurden mit dem JStG 2022 an die der Anlage 1 ImmoWertV angepasst, sofern sie diesen nicht bereits entsprachen (BT-Drucks. 20/3879, 127).
Das Alter eines Gebäudes bestimmt sich nach § 185 Abs. 3 Satz 4 BewG, indem man das Jahr der Bezugsfertigkeit des Gebäudes vom Jahr des Bewertungsstichtages abzieht. Diese Regelung entspricht im Wesentlichen § 4 Abs. 1 ImmoWertV.
Sind nach der Bezugsfertigkeit eines Gebäudes Veränderungen eingetreten, die seine Restnutzungsdauer wesentlich verlängern, ist von einer verlängerten Restnutzungsdauer auszugehen (§ 185 Abs. 3 Satz 5 BewG). Im Gegensatz zur ImmoWertV berücksichtigt man nur wesentliche Verlängerungen, nicht alle. Das BewG klärt jedoch nicht, wann eine Verlängerung wesentlich ist. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (zur Auslegung des Begriffs: VI.).
Die Restnutzungsdauer eines nutzbaren Gebäudes beträgt nach § 185 Abs. 3 Satz 6 BewG mindestens 30 % der Gesamtnutzungsdauer, sog. Mindestrestnutzungsdauer. Den gesetzlichen Bezug zu "nutzbaren Gebäuden" bräuchte es nicht, da unbenutzbare Gebäude im bewertungsrechtlichen Sinne keine Gebäude sind und somit keine Restnutzungsdauer haben. Nach den Gesetzgebungsmaterialien liegt der Regelung der Gedanke zugrunde, "dass auch ein älteres Gebäude, das laufend instandgehalten wird, nicht wertlos wird" (BT-Drucks. 16/11107, 18). Die Mindestrestnutzungsdauer nach § 185 Abs. 3 Satz 6 BewG ist bis zu doppelt so hoch wie die nach dem Modell der Anlage 2 ImmoWertV:
GND |
MRND in Jahren (BewG) |
MRND in % der GND (BewG) |
MRND in Jahren (ImmoWertV) |
MRND in % der GND (ImmoWertV) |
80 Jahre |
24 Jahre |
30 % |
12 Jahre |
15 % |
70 Jahre |
21 Jahre |
30 % |
- |
- |
60 Jahre |
18 Jahre |
30 % |
9 Jahre |
15 % |
50 Jahre |
15 Jahre |
30 % |
8 Jahre |
16 % |
40 Jahre |
12 Jahre |
30 % |
6 Jahre |
15 % |
30 Jahre |
9 Jahre |
30 % |
5 Jahre |
16,67 % |
Anlage 22 BewG legt für Museen, Theater, Sakralbauten und Friedhofsgebäude eine Gesamtnutzungsdauer von 70 Jahren fest. Eine Gesamtnutzungsdauer von 70 Jahren gibt es nach Anlage 1 ImmoWertV nicht.
Eine Verkürzung der Restnutzungsdauer kommt nach § 185 Abs. 3 Satz 7 BewG – im Gegensatz zu § 4 Abs. 3 Satz 3 ImmoWertV – nur bei bestehender Abbruchverpflichtung in Betracht. Die Mindestrestnutzungsdauer nach § 185 Abs. 3 Satz 6 BewG kann in diesem Fall unterschritten werden.
2. Sachwertverfahren (§§ 189 bis 191 BewG)
Die Restnutzungsdauer eines Gebäudes ergibt sich aus der Differenz zwischen der Gesamtnutzungsdauer gem. Anlage 22 BewG und dem Alter des Gebäudes am Bewertungsstichtag (§ 190 Abs. 6 Satz 2 BewG). Um das Alter zu ermitteln, zieht man das Jahr der Bezugsfertigkeit vom Jahr des Bewertungsstichtags ab (§ 190 Abs. 6 Satz 3 BewG). Haben sich nach der Bezugsfertigkeit Veränderungen ergeben, die die Restnutzungsdauer wesentlich verlängern, gilt die verlängerte Dauer (§ 190 Abs. 6 Satz 4 BewG). Die Restnutzungsdauer eines nutzbaren Gebäudes beträgt mindestens 30 % der Gesamtnutzungsdauer (§ 190 Abs. 6 Satz 5 BewG). Eine Verkürzung der Restnutzungsdauer ist nur bei bestehender Abbruchverpflichtung möglich (§ 190 Abs. 6 Satz 6 BewG).
Die Regelungen zum Sachwertverfahren entsprechen folglich denen des Ertragswertverfahrens, sind jedoch in § 190 BewG festgelegt. Die Erläuterungen zum Ertragswertverfahren (V. 1.) gelten hier entsprechend.