Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. d. JStG 2007 ist auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.
2. Die in § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011 geregelte rückwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.
Normenkette
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. d. JStG 2007, § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG i.d.F. d. JStG 2008, § 52 Abs. 55j EStG i.d.F. d. StVereinfG 2011, §§ 169 Abs. 2 Nr. 2, 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO, Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG
Sachverhalt
K erklärte am 28.12.2009 mit seinen ESt-Steuererklärungen für 2002 bis 2004 neben positiven Lohneinkünften auch Werbungskostenüberschüsse aus V+V. Das FA lehnte eine Veranlagung wegen Festsetzungsverjährung ab. Die Klage dagegen war erfolgreich (Niedersächsisches FG, Urteil vom 31.1.2012, 8 K 196/10, Haufe-Index 3219191). Der BFH habe 2006 entschieden, dass eine Amtsveranlagung auch dann durchzuführen sei, wenn die negative Summe der Nebeneinkünfte den Betrag von 410 EUR übersteige. Diese Rechtslage sei mit dem JStG 2007 (vom 13.12.2006, BGBl I 2006, 2878) nicht wirksam rückwirkend geändert worden.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und wies aus den in den Praxis-Hinweisen erläuterten Erwägungen die Klage ab.
Hinweis
Ein Anschauungsbeispiel zur Rückwirkung im Steuerrecht: Die Antwort des Gesetzgebers auf die ihm nicht genehme, aber vom FG in Bezug genommene Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 21.9.2006, VI R 47/05, BFH/NV 2006, 2364, BFH/PR 2006, 474) war § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i.d.F. d. JStG 2007. Danach ist von Amts wegen nur zu veranlagen, wenn die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte 410 EUR übersteigt; das gilt rückwirkend (§ 52 Abs. 55j Satz 1 EStG).
1. Der BFH sah im Streitfall – jedenfalls gemessen am Maßstab des BVerfG – kein Verfassungsproblem. Denn das BVerfG lässt das verfassungsrechtlich im Vertrauensschutz gründende Rückwirkungsverbot zurücktreten, wenn der Steuerpflichtige kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte. Anwendungsfälle dafür sind eine unklare oder verworrene Rechtslage oder eine gefestigte Rechtsanwendungspraxis zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage, die nach Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird.
2. Danach hatte die Neuregelung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG lediglich die Rechtslage wiederhergestellt, die vor dem BFH-Urteil vom 21.9.2006 gegolten hatte und jahrzehntelange Besteuerungspraxis war. Ein berechtigtes Vertrauen auf den Fortbestand der hiervon abweichenden Rechtslage des BFH-Urteils vom 21.9.2006 konnte bis zum Erlass der Neuregelung nicht entstehen, weil der Gesetzgeber es rechtzeitig zerstört hatte, indem er schon am 29.9.2006 angekündigt hatte, zur bisherigen Rechtslage zurückkehren zu wollen.
3. Das JStG 2007 wurde am 13.12.2006 beschlossen, am 18.12.2006 verkündet, die erste Gesetzesinitiative dazu war die Veröffentlichung der BR-Drs. 622/1/06 am 29.9.2006. Angesichts dessen konnte sich K mit der am 28.12.2009 abgegebenen Einkommensteuererklärung nicht auf Vertrauensschutz berufen, konkrete Dispositionen waren nicht ersichtlich; und die nur allgemeine Erwartung, das bestehende Recht gelte unverändert fort, genießt keinen verfassungsrechtlichen Schutz.
4. So kam hier nur die Antragsveranlagung in Betracht (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 i.V.m. § 52 Abs. 55j Satz 2 EStG i.d.F. d. JStG 2008 vom 20.12.2007, BGBl I 2007, 3150). Danach wird eine ESt-Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird, anwendbar erstmals für 2005 und in Fällen, in denen – so wie hier – am 28.12.2007 über einen Antrag auf Veranlagung noch nicht bestandskräftig entschieden war (dazu: BFH, Urteil vom 12.11.2009, VI R 1/09, BFH/NV 2010, 514, BFH/PR 2010, 135). Diese Sonderregelung setzt allerdings die Grundsätze der Festsetzungsverjährung nicht außer Kraft. Deshalb war hier die ESt für 2002 bis 2004 mit Ablauf der Jahre 2006 bis 2008 verjährt (§ 169 Abs. 2 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO). Denn der Ablauf der Festsetzungsfrist war auch nicht nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gehemmt (dazu BFH, Urteil vom 14.4.2011, VI R 53/10, BFH/NV 2011, 1410, BFH/PR 2011, 355).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 17.1.2013 – VI R 32/12