OFD Nürnberg, Verfügung v. 5.12.2002, S 0353 - 46/St 24
1. Anwendungsbereich
Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO setzt voraus, dass ein Ereignis eingetreten ist, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat.
Das Ereignis muss nachträglich, d.h. nach Erlass des Steuerbescheids eingetreten sein (BFH-Urteil vom 26.10.1988, II R 55/86, BStBl 1989 II S. 75) und sich für die Vergangenheit auswirken, also den der Steuerfestsetzung zugrunde gelegten Sachverhalt rückwirkend verändern.
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist eine Änderungsvorschrift, die es ermöglicht, Ereignisse, die bei Erlass des Bescheides noch nicht vorgelegen haben, nachträglich steuerlich zu berücksichtigen, wenn sie in die Vergangenheit zurückwirken. Ein zunächst fehlerfreier Bescheid wird durch den Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses rechtswidrig und muss daher korrigiert werden.
Bei der Änderungsmöglichkeit des § 173 Abs. 1 AO liegt die Tatsache dagegen bereits beim Erlass des Bescheides vor, sie ist der Finanzbehörde nur nicht bekannt. Der Bescheid ist damit von Anfang an fehlerhaft und wird deswegen korrigiert.
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und § 173 Abs. 1 AO schließen sich somit gegenseitig aus, BFH-Urteil 21.4.1988, IV R 215/85, BStBl 1988 II S. 863.
Konkurrenzregelungen:
Spezialvorschriften in den Einzelsteuergesetzen gehen der Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO vor.
Solche Spezialvorschriften sind insbesondere:
2. Begriff des Ereignisses
Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist jeder tatsächliche oder rechtliche Umstand, der nach dem Gesetz den Steueranspruch dem Grunde oder der Höhe nach beeinflusst (BFH-Beschluss GrS 2/92 vom 19.7.1993, BStBl 1993 II S. 897). Ein Ereignis liegt folglich z.B. vor, wenn der dem Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt oder ein Teil dieses Sachverhaltes nachträglich wegfällt oder ein neuer Sachverhalt mit Wirkung für die Vergangenheit eintritt. Dagegen ist eine andere rechtliche Beurteilung eines im Übrigen unverändert gebliebenen Sachverhaltes grundsätzlich kein Ereignis im Sinne dieser Vorschrift.
3. Steuerliche Rückwirkung des Ereignisses
Dem Ereignis muss steuerliche Wirkung für die Vergangenheit zukommen, d.h., die steuerlichen Folgen müssen sich mit Wirkung für die Vergangenheit ändern. Ob einem Ereignis steuerliche Rückwirkung für die Vergangenheit zuzumessen ist, bestimmt sich nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, sondern kann nur den materiellen Steuergesetzen entnommen werden (BFH-Urteile 26.7.1984, IV R 10/83, BStBl 1984 II S. 786 und vom 12.7.1989, X R 8/84, BStBl 1989 II S. 957).
Bei einmaligen Steuern (z.B. Grunderwerbsteuer oder Erbschaftsteuer) stellt ein nachträglich eingetretener Sachverhalt in der Regel ein rückwirkendes Ereignis dar, weil nur der eine Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden kann.
Bei laufend veranlagten Steuern wirken sich Ereignisse, die nach Ablauf des Veranlagungszeitraums eintreten, regelmäßig nicht rückwirkend aus, sondern betreffen den neuen Veranlagungszeitraum. Dies gilt insbesondere für Vorgänge, die an den Zu- und Abfluss von Zahlungen knüpfen.
Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist jedoch bei laufend veranlagten Steuern insbesondere dann anwendbar, wenn es sich um Veräußerungsgeschäfte im Sinne der §§ 16, 17, 34 EStG handelt (vgl. Anwendungsbeispiele in Tz. 6).
4. Umfang der Änderung
Der (Anpassungs-)Bescheid hat lediglich die Auswirkungen des eingetretenen Ereignisses zu berücksichtigen (punktuelle Änderung). Eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ist unzulässig. Allerdings dürfen – soweit das rückwirkende Ereignis reicht – anlässlich der Änderung wegen des eingetretenen Ereignisses auch Rechtsfehler, die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufen sind, korrigiert werden (BFH-Urteil vom 23.11.2000, IV R 85/99, BStBl 2001 II S. 122). Daneben ist auch die Vorschrift des § 177 AO zu beachten.
5. Festsetzungsfrist
Für den Erlass, die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt, § 175 Abs. 1 Satz 2 AO. Die besondere Verjährungsfrist ist auf den Umfang der durch den Eintritt des rückwirkenden Ereignisses sich ergebenden steuerlichen Auswirkung beschränkt. Für den Fristbeginn kommt es nicht darauf an, wann das Ereignis dem FA bekannt wird.
6. Anwendungsbeispiele:
6.1 Einkommensteuer
- Zu § 4 Abs. 2
Ändert sich ein Bilanzansatz, stellt dies ein rückwirkendes Ereignis hinsichtlich der bestandskräftigen Steuerfestsetzung des Folgejahres – nicht aber hinsichtlich der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen früherer Jahre – dar (BFH-Urteil vom 19.8.1999, IV R 73/98, BStBl 2000 II S. 18, BFH-Beschluss vom 25.8.2000, IV B 15...