LfSt Bayern v. 26.2.2020, S 0335.1.1-4/4 St43
1. Allgemeine Grundsätze zur Schätzung bei der Nichtabgabe von Steuererklärungen
Nach Einführung des maschinellen Zwangsgeldverfahrens ist grundsätzlich zunächst – vor einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen – ein Zwangsgeldverfahren durchzuführen, um den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Steuererklärung zu bewegen (vgl. AO-Kartei § 328 Karte 1).
Falls das Zwangsgeldverfahren nicht zur Abgabe der Steuererklärung führt, hat das Finanzamt zu schätzen, soweit es die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO). Eine Schätzung soll in sich schlüssig sein; ihre Ergebnisse sollen wirtschaftlich vernünftig und möglich sein. Ziel der Schätzung ist es deshalb, diejenigen Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben (BFH-Urteil vom 19.01.1993 VII R 128/84, BStBl 1993 II S. 594). Dabei ist das Finanzamt grundsätzlich gehalten, diejenigen Erkenntnisse, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sind, auszuschöpfen.
Eine Schätzung ist aber nicht schon deswegen rechtswidrig, weil sie von den – später bekannt gewordenen – tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Unsicherheit, die einer Schätzung anhaftet, kann daher nicht zu Lasten des Finanzamts gehen, weil der Steuerpflichtige durch seine Säumigkeit den Anlass für die Schätzung gegeben hat. Es ist in der Regel ermessensgerecht, wenn sich das Finanzamt bei steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen an der oberen, bei steuermindernden Besteuerungsgrundlagen an der unteren Grenze des unter Berücksichtigung aller Umstände in Betracht kommenden Schätzungsrahmens ausrichtet, weil der Steuerpflichtige durch die Nichtabgabe seiner Erklärung möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (vgl. BFH-Urteile vom 18.12.1984 VIII R 195/82, BStBl 1986 II S. 226, und vom 20.12.2000 I R 50/00, BStBl 2001 II S. 381).
Insbesondere bei „Dauerschätzungsfällen” ist regelmäßig – sofern die Steuerpflichtigen die festgesetzte Steuer aus der Vorjahresschätzung bezahlt haben – bei der aktuellen Schätzung grundsätzlich von höheren Besteuerungsgrundlagen auszugehen.
Allerdings sind keine Strafschätzungen zulässig. Schätzungen sind auch kein Druckmittel, um den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Steuererklärung zu veranlassen. Hierfür sind nach der AO die Festsetzung von Verspätungszuschlägen und das Zwangsmittelverfahren vorgesehen.
Schätzungsfehler, d.h. der Ansatz von Besteuerungsgrundlagen, die außerhalb des sich aus den Umständen des Einzelfalles ergebenden Schätzungsrahmens liegen, führen regelmäßig auch dann nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheids, wenn mehrere grobe Schätzungsfehler vorliegen, sondern lediglich zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Willkürlich und damit nichtig ist ein Schätzungsbescheid allerdings, wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass das Finanzamt überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt hat. In diesen Fällen spricht der BFH von einem „objektiv willkürlichen Hoheitsakt” (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 15.05.2002 X R 34/99 und BFH-Beschluss vom 20.10.2005 IV B 65/04, BFH/NV 2006 S. 240).
2. Berücksichtigung bereits bekannter Sachverhalte (e-Daten)
Erkenntnisse aus den Vorjahren, Kontrollmitteilungen, Mitteilungen über einheitliche und gesonderte Feststellungen, Veräußerungsmitteilungen, substantiierte Hinweise von dritter Seite, die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach § 10d Abs. 4 EStG, Gewerbean- und abmeldungen etc. sind auch im Rahmen der Schätzung zu berücksichtigen.
Ebenso sind sämtliche dem Finanzamt von Dritter Seite übermittelten Daten, zu berücksichtigen, soweit nicht Anhaltspunkte vorliegen, dass die Daten falsch sind. Es handelt sich hierbei um
- Lohnbescheinigung(en)
- Lohnersatzleistungen
- Rentenbezugsmitteilungen
- Mitteilungen-freigestellte-Kapitalerträge
- Erträge nach der Zinsinformationsverordnung
- Mitteilung-Altersvorsorgevertrag
- Beiträge-Basisrentenvertrag
- Beiträge-Kranken-und-Pflegeversicherung
Ergibt sich durch die Verwendung der „eDaten” letztlich ein Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen, wird auf die Möglichkeit einen Verspätungszuschlag festzusetzen, ausdrücklich hingewiesen (vgl. hierzu AEAO zu § 152 Nr. 5.2)
3. Abfrage im Erhebungsspeicher/Kontaktaufnahme mit der Vollstreckungsstelle vor Durchführung der Schätzung
Vor Durchführung der Schätzung ist in jedem Fall eine Abfrage im Erhebungsspeicher durchzuführen. In Fällen, in denen der Steuerpflichtige bereits erhebliche Steuerrückstände hat, ist zur Vermeidung des Entstehens weiterer, nicht beitreibbarer Steuerrückstände vor Erlass des Schätzungsbescheids Kontakt mit der Vollstreckungsstelle aufzunehmen (telefonisch bzw. mit Hilfe der Vorlage „Anfrage Besteuer...