Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 113
Nach Doppelbuchst. bb) führt es zu einem Kennzeichen, wenn in mehr als einem Steuerhoheitsgebiet eine Steuerbefreiung nach einem DBA für dieselben Einkünfte oder dasselbe Vermögen in Anspruch genommen wird und die Einkünfte oder das Vermögen deshalb ganz oder teilweise unversteuert bleiben. Erfasst werden also Gestaltungen, bei denen durch Inanspruchnahme der Freistellungsmethode in zwei oder mehr Staaten "weiße" unbesteuerte Einkünfte generiert werden sollen. Persönlich betroffen sind Unternehmen jeder Rechtsform, also auch Einzelunternehmen und Personengesellschaften sowie Privatpersonen. Erfasst werden Qualifikationskonflikte bei Bestehen eines DBA zwischen den betroffenen Steuerhoheitsgebieten, aber auch Dreiecksfälle, in denen das DBA zwischen dem ersten und dem zweiten Staat das Besteuerungsrecht dem zweiten Staat zuweist, dieser nach dem DBA mit dem dritten Staat aber an der Besteuerung gehindert ist, und nach dem DBA zwischen dem ersten und dem dritten Staat auch der dritte Staat die Einkünfte oder das Vermögen nicht besteuern darf.
Rz. 114
Gegenstand der Mehrfachfreistellung sind die identischen Einkünfte oder Vermögen. Es kommt darauf an, dass es sich tatsächlich um die gleichen und damit identischen Einkünfte oder Vermögen handelt. Nicht entscheidend ist die steuerrechtliche Qualifizierung der Einkünfte oder Vermögen. Die doppelte oder mehrfache Freistellung kann daher auch auf Unterschieden in der rechtlichen Qualifikation in den beteiligten Staaten und damit in Qualifikationskonflikten beruhen. Das Kennzeichen liegt jedoch dann nicht vor, wenn die Doppelbesteuerung durch die Anrechnung ausländischer Steuern beseitigt wird. In DBA-Fällen sind daher nur Fälle betroffen, die der Freistellungsmethode unterliegen. Weiterhin sind Fälle nicht erfasst, in denen der eine Staat eine Freistellung gewährt, der andere Staat die Einkünfte aufgrund seines nationalen Rechts aber nicht besteuert, z. B. bei Dividenden, die im Quellenstaat der Quellensteuerbefreiung nach dem internationalen Schachtelprivileg, in Deutschland auch unter Berücksichtigung des § 50d Abs. 3 EStG, und im Ansässigkeitsstaat § 8b KStG oder einer entsprechenden Vorschrift unterliegen.
Rz. 115
Aus deutscher Sicht betrifft die Vorschrift regelmäßig nur Einkünfte, da keine Vermögensteuer erhoben wird. Vermögen können aber bei einer doppelten Freistellung von der Erbschaftsteuer betroffen sein, wenn ein DBA über Erbschaftsteuer besteht.
Rz. 116
Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss die Gestaltung zum Gegenstand haben, dass die Einkünfte oder Vermögen ganz oder teilweise unversteuert bleiben. Gänzlich unversteuert bleiben die Einkünfte oder das Vermögen, wenn überhaupt keine Steuer anfällt. Mit dem Tatbestandsmerkmal, dass auch Gestaltungen erfasst werden, die Einkünfte und Vermögen teilweise unversteuert lassen, weicht die Vorschrift in mehrfacher Hinsicht von der Formulierung in Anhang IV Teil II c Nr. 3 der EU-Richtlinie v. 25.5.2018 ab. Weiter ist die Gesetzesfassung insoweit, als dort nur die "Befreiung" von der Doppelbesteuerung von dem Kennzeichen erfasst wird, nicht auch die "teilweise" Befreiung. Es besteht daher insoweit eine Mitteilungspflicht aufgrund des deutschen Gesetzes, der keine Pflicht zum Auskunftsverkehr nach der EU-Richtlinie entspricht. Die teilweise Befreiung bezieht sich nicht auf die ggf. niedrigere Höhe der Besteuerung der Einkünfte oder Vermögen, die alle Teile der Einkünfte oder des Vermögens erfasst, sondern auf Fälle, in denen Teile der Einkünfte oder Vermögen besteuert, andere aber nicht besteuert werden. Es muss sich also um die Steuerbefreiung von separierbaren Teilen der Einkünfte oder des Vermögens handeln. Andererseits ist § 138e Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b) Doppelbuchst. bb) AO enger als der entsprechende Text in Anhang IV der Richtlinie, als danach ein Kennzeichen nur besteht, wenn die Befreiung vorgenommen wird und die Einkünfte oder das Vermögen ganz oder teilweise unversteuert bleiben. Nach Anhang IV der Richtlinie liegt bereits ein Kennzeichen vor, wenn die Gestaltung zum Gegenstand hat, dass Befreiung "beantragt" wird. Der Antrag kann darin gesehen werden, dass in den Steuererklärungen in beiden Steuerhoheitsgebieten die Einkünfte als steuerfrei behandelt werden sollen. Das Kennzeichen würde danach unabhängig von dem Erfolg des Antrags sein. Nach dem nationalen Recht liegt dagegen nur ein Kennzeichen vor, wenn die Gestaltung zum Gegenstand hat, dass tatsächlich Steuerfreiheit eintritt. Durch diese Abweichung soll eine ausufernde Mitteilungspflicht vermieden werden. Regelmäßig wird der Tatbestand des Kennzeichens nicht erfüllt sein, wenn nach DBA oder unilateral eine Subject-to-tax-Klausel oder eine Switch-over-Klausel zum Tragen kommt.