Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 61
Ein entsprechender Vertrauensschutz greift ein, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes (vgl. Rz. 30) eine allgemeine, für den Stpfl. günstige Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung oder einer obersten Bundes- oder Landesbehörde als mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehend bezeichnet hat. Der Stpfl., für den die Steuer in einem Steuerbescheid aufgrund einer für ihn günstigen allgemeinen Verwaltungsvorschrift festgesetzt worden ist, soll darauf vertrauen können, dass diese in der Verwaltungsanweisung enthaltene Rechtsauslegung auch bei einer späteren Änderung des Bescheids zugrunde gelegt wird. Rechtssystematisch ist die Grundlage für diesen Vertrauensschutz problematisch; vgl. Rz. 5.
Rz. 62
Infrage für den Vertrauensschutz nach Abs. 2 kommen die Richtlinien und Erlasse der FinMin, die nicht nur einen Einzelfall betreffen, nicht jedoch die Verfügungen der OFD. Anzuwenden ist die Regelung über den Vertrauensschutz bei der Änderung aller Steuerbescheide, auch der unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden und der vorläufigen Steuerbescheide, und aller Bescheide, die wie Steuerbescheide behandelt werden.
Rz. 62a
Ist die Verwaltungsanweisung durch die oberste Finanzbehörde eines Landes erlassen worden, ist zu beachten, dass dann Vertrauensschutz nur gegen die Änderung von Bescheiden durch FÄ dieses Landes eintritt. Ein Stpfl., für den Finanzbehörden eines anderen Bundeslandes zuständig sind, kann sich daher nicht auf eine Verwaltungsanweisung der obersten Finanzbehörde eines anderen Landes verlassen.
Rz. 62b
Den Vertrauensschutz begründet nur eine ausdrückliche Aussage in einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift. Eine von der Finanzverwaltung vertretene Auffassung genügt nicht, wenn sie nicht in einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift ihren Niederschlag gefunden hat. Es genügt auch nicht, dass sich die Auffassung der Finanzverwaltung nur bei einer Interpretation der Verwaltungsanweisung ergibt. Eine allgemeine Verwaltungsvorschrift begründet darüber hinaus keinen Vertrauensschutz, wenn sie zum Zeitpunkt ihres Erlasses bzw. im Zeitpunkt, in dem die zu ändernde Steuerfestsetzung ergeht, in einem offenkundigen und nicht überbrückbaren Widerspruch zu der BFH-Rechtsprechung steht. Insoweit gelten die Ausführungen zu dem Inhalt einer Rechtsprechung entsprechend; vgl. daher Rz. 41ff.
Rz. 63
Es ist nicht erforderlich, dass sich das Gericht ausdrücklich mit der Verwaltungsvorschrift auseinandersetzt und die Verwaltungsvorschrift ausdrücklich als rechtswidrig bezeichnet. Es genügt, dass es eine Rechtsansicht vertritt, die der in der Verwaltungsvorschrift vertretenen Rechtsansicht widerspricht und damit deutlich zum Ausdruck bringt, dass die Verwaltungsvorschrift nicht dem geltenden Recht entspricht. Es muss sich auch nicht um genau den gleichen Sachverhalt handeln. Es genügt, dass die Rechtsgedanken für ein bestimmtes Rechtsproblem gleichartig und damit entscheidungserheblich sind. Zwischen den jeweiligen Sachverhalten muss ein Sachzusammenhang bestehen. Ein Beispiel ist etwa die zeitanteilige Gewährung der Steuervergünstigung bei Einflaggung und Ausflaggung. Ein Gegenbeispiel ist etwa die Behandlung eines Wirtschaftsgutes bei Betriebsverpachtung und Betriebsveräußerung. Hier fehlt die notwendige Vergleichbarkeit des Sachverhalts. Es kommt also nicht auf die Gleichheit des Sachverhalts an, sondern auf die Gleichheit des Rechtsproblems.
Rz. 63a
Schließlich soll der Vertrauensschutz auch bei einem obiter dictum (nicht tragende Gründe) des Gerichts eingreifen. Dies ist m. E. abzulehnen, da ein obiter dictum nicht zu den tragenden Entscheidungsgründen gehört und daher nicht die endgültige und durchdachte Ansicht des Gerichts wiedergeben muss. Vgl. im Einzelnen Rz. 42ff.
Rz. 63b
Der Vertrauensschutz greift nicht ein, wenn die Verwaltungsvorschrift nicht ausdrücklich oder sinngemäß als rechtswidrig bezeichnet, sondern im Rahmen des möglichen Wortsinns vertretbar anders interpretiert oder ergänzt wird.
Rz. 64
§ 176 AO greift nicht ein, wenn eine Verwaltungsvorschrift von der Behörde selbst aufgehoben oder zum Nachteil des Stpfl. geändert wird. Hierin liegt eine wesentliche Lücke im Vertrauensschutz, die durch eine gesetzliche Regelung geschlossen werden sollte.
Rz. 65
Der Vertrauensschutz greift nur ein, wenn die Entscheidung des obersten Bundesgerichts, in dem die Verwaltungsanweisung als mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehend bezeichnet wird, vor der Änderung der Steuerfestsetzung erfolgt ist. Wird dagegen die Steuerfestsetzung vor der entsprechenden Entscheidung des obersten Bundesgerichts in Abweichung von der Verwaltungsanweisung geändert, beruht diese Änderung der Steuerfestsetzung nicht auf der Entscheidung des Gerichts; die Vertrauensschutzregelung greift nicht ein.
Rz. 66
Die Anwendung des § 176 Abs. 2 AO erfordert auch, dass die fragliche Verwaltungsanweisung vor dem sie verwerfenden Urteil des BFH ergangen ist. Ergeht die Verwaltungsanweisung nach dem BFH-...