Rz. 1
Die Vorschrift enthält, obwohl im Zweiten Abschnitt ("Steuerliche Begriffsbestimmungen") platziert, keine Begriffsbestimmung, sondern eine Direktive für das Wie des von der Finanzbehörde auszuübenden Ermessens und die Grenzen der Ermessensausübung. Die Vorschrift stimmt wörtlich mit § 40 VwVfG überein. Es handelt sich nur um eine Rahmenvorschrift für die Anwendung des Ermessens. § 5 AO enthält keine Ermächtigung zur Ermessensausübung, sondern setzt eine solche Ermächtigung nach anderen Vorschriften (dazu Rz. 13ff.) voraus.
Rz. 2
Der Anwendungsbereich des § 5 AO betrifft hauptsächlich die Ermessensausübung im Bereich des Steuerverfahrensrechts, z. B. beim Erlass von Verwaltungsakten. Zum Ermessen bei Steuerverwaltungsakten vgl. Rz. 6. Am Maßstab dieser Vorschrift ist jedoch auch das bei Maßnahmen im Rahmen der Verfahrensgestaltung gegebene sog. Verfahrensermessen zu prüfen.
Das sog. gesetzgeberische Ermessen, d. h. das dem Gesetzgeber von der Verfassung eingeräumte Ermessen, hat mit dem Verwaltungsermessen und § 5 AO nichts zu tun; insbesondere unterliegt das gesetzgeberische Ermessen keiner finanzgerichtlichen Nachprüfung.
Rz. 3
Das Rechtsinstitut des Ermessens hat eine Entwicklung durchgemacht, die sich vor allem in der gerichtlichen Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen niedergeschlagen hat. Grundlage der gerichtlichen Prüfungsbefugnis ist die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sowie der Grundsatz der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, aus denen sich für den Bürger ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung herleitet. Zwar können die Gerichte, da das Verwaltungshandeln in den Bereichen mit Ermessensspielraum vom Gesetz nicht vollen Umfangs vorausbestimmt ist, bei einer fehlerfreien Nutzung des zugelassenen Spielraums durch die Behörde die getroffene Entscheidung nicht aufheben oder ändern. Insoweit ist die den Gerichten eingeräumte Prüfungs- und Entscheidungskompetenz entgegen dem irreführenden Wortlaut des § 102 FGO begrenzt. Insbesondere ist es Gerichten verwehrt, eine Ermessensentscheidung wegen einer anderweitigen zweckmäßigeren, sachgerechteren oder sonst besseren Lösung zu verwerfen. Gleichwohl gibt es, wie § 5 AO deutlich macht, nur rechtlich gebundenes und kein "freies" Ermessen. Daher kann für die Ermessensverwaltung von einer gesetzesakzessorischen und gesetzesgelenkten Wahlfreiheit der Verwaltung bei der Rechtsfolgebestimmung gesprochen werden. Im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung kann sich daher erweisen, dass der Ermessensspielraum eingeengt oder sogar auf nur eine rechtmäßige Möglichkeit reduziert ist.