Rz. 58
Geht der Beteiligte seines Rügerechts verlustig, kann er wegen eines davon betroffenen Verfahrensmangels nicht mehr die Zulassung der Revision erreichen. Nach § 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO kann ein Verfahrensfehler nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können und tatsächlich verzichtet haben. Der Verlust des Rügerechts hat zur Folge, dass der (verzichtbare) Verfahrensmangel geheilt wird und als nicht vorliegend zu behandeln ist. Die zulässige Verfahrensrüge setzt daher auch die Darlegung voraus, dass der Beschwerdeführer nicht auf sein Rügerecht verzichtet hat.
Rz. 59
Verzichtbare Verfahrensmängel sind:
- Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme;
- Übergehen eines Beweisantrags;
- Verletzung der Sachaufklärungspflicht, § 76 Abs. 1 FGO;
- Unterlassung der Heranziehung eines weiteren Gutachters;
- Verwertung einer Zeugenaussage trotz unterbliebener Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht;
- Unterlassen der Protokollierung bestimmter Vorgänge;
- Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens;
- Verletzung des rechtlichen Gehörs;
- Verstoß gegen § 103 FGO.
Rz. 60
Die Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt grundsätzlich keinen Verzicht auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften dar. Allerdings kann sich der Beteiligte nicht auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs berufen, wenn er sich durch die Nichtteilnahme an der ordnungsgemäß anberaumten mündlichen Verhandlung unter Missachtung seiner Prozessverantwortung seiner Gehörsrechte begeben hat.
In einem Verzicht auf die mündliche Verhandlung liegt zugleich ein Verzicht auf die Durchführung einer Beweisaufnahme, die -- wie eine Zeugenvernehmung – nur in mündlicher Verhandlung durchzuführen ist, sodass der Verzicht auf die mündliche Verhandlung zu einem ausdrücklichen Verzicht auf das Rügerecht führt.
Nicht verzichtet werden kann auf die Einhaltung der im öffentlichen Interesse von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensvorschriften, z. B. die Einhaltung der Grundordnung des Verfahrens oder die Beachtung der Sachentscheidungsvoraussetzungen (Form- und Fristerfordernisse), der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts, der Bestimmungen über die notwendige Beiladung, die Aussetzung des Verfahrens.
Rz. 61
Der Beteiligte verliert sein Rügerecht nicht nur, wenn er ausdrücklich oder konkludent darauf verzichtet, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitig, d. h. bei nächster sich bietender Gelegenheit erhobenen Rüge; ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Anders kann dies nur dann sein, wenn der Beteiligte aufgrund des Verhaltens des FG die Rüge für entbehrlich halten durfte. Die Anforderungen an eine rechtzeitige Rüge sind bei nicht vertretenen Beteiligten indes nicht zu überspannen.
Die Rspr. nimmt einen Rügeverlust regelmäßig nur in den Fällen uneingeschränkt an, in denen der Beteiligte vor dem FG durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war. Tritt er ohne einen Beistand auf, so kann ihm die Unkenntnis solcher Verfahrensverstöße grundsätzlich nicht zugerechnet werden, die einer entsprechenden Wertung in der Laiensphäre normalerweise verschlossen sind.
Rz. 62
Der Verfahrensmangel muss in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt werden, in der der Rügeberechtigte erschienen ist. Auf einen im Erörterungstermin gestellten Antrag oder eine Rüge kommt es nicht an. Verhandelt er zur Sache, ohne den Verfahrensmangel zu rügen, obwohl er den Mangel kannte oder erkennen musste, verliert er das Rügerecht. Wurde z. B. zur mündlichen Verhandlung kein Zeuge geladen, ist für den Kläger erkennbar, dass das FG die beantragte Zeugeneinvernahme nicht beabsichtigt. Wird dies in der mündlichen Verhandlung nicht gerügt, liegt ein Verzicht auf den Verfahrensmangel des Übergehens eines Beweisantrags vor.
Die "nächste" mündliche Verhandlung ist auch die sich unmittelbar an die Beweisaufnahme bzw. den Verfahrensfehler anschließende oder fortgesetzte (also dieselbe) Verhandlung. Ggf. muss der Beteiligte sich gegen die Schließung der mündlichen Verhandlung wenden oder die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragen, um seine Rüge anzubringen. Unterlässt es der Beteiligte, nach Ergehen eines Gerichtsbescheids des FG mündliche Verhandlung zu beantragen, kommt dies einem Verzicht auf das Rügerecht gleich. Ergibt sich der gerügte Verfahrensverstoß erst aus den Entscheidungsgründen selbst und war den Beteiligten daher eine vorherige (rechtzeitige) Rüge in der mündlichen Verhandlung gar nicht möglich, tritt freilich kein Verlust des Rügerechts ein. Eine ausdrückliche Rüge wäre bloße Förmelei, da sich bereits aus dem Urteil ergibt, dass dem FG die Existenz des übergangenen Beweismittels bewusst war.
Das Unterlassen der Rüge wird wie ein Verzicht behandelt und schließt wegen der Heilung des Ver...