Rz. 13
Nach der Gesetzesbegründung soll sich die Krankenkasse bei ihrer Entscheidung über die Höhe des Rückgriffsrechts daran orientieren, ob und in welchem Umfang dem Versicherten ein Rückgriff zuzumuten ist. Bei der Ermessensausübung hat die Krankenkasse unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die Interessen des Versicherten mit denen der Versichertengemeinschaft abzuwägen. Dabei sind insbesondere
- der Grad des Verschuldens (unter Berücksichtigung von Schuldminderungsgründen),
- die Höhe der Aufwendungen der Krankenkasse,
- die finanzielle Leistungsfähigkeit des Versicherten und seine Unterhaltsverpflichtungen
zu berücksichtigen (vgl. GR der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 9.12.1988 zu § 52 SGB V). Im Rahmen der Prüfung der Schuldminderungsgründe hat die Krankenkasse auch zu prüfen, in welcher psychischen Verfassung der Versicherte zum Tatzeitpunkt war und ob krankheitsbedingte Umstände (z. B. psychische Erkrankung) die Tat begünstigt haben (z. B. Selbstverstümmelung).
Rz. 14
Der Prüfung muss eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung folgen. Das ergibt sich aus § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I, nach der die Krankenkasse
- ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und
- die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten
hat. Hierzu hat die Krankenkasse alle erheblichen Umstände zu ermitteln (Amtsermittlungsprinzip; §§ 21, 22 SGB X) und den Versicherten vor der Entscheidung anzuhören (§ 24 SGB X). Im Rahmen dieser Anhörung hat die Krankenkasse ihrem Versicherten mitzuteilen, welche Entscheidung sie dem Grunde nach beabsichtigt und auf welche Tatsachen sie sich bisher stützt.
Auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens durch die Krankenkasse hat der Versicherte einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Das heißt: Vergleichbare Fälle müssen gleich und "gerecht" behandelt werden (vgl. hierzu BSG, Urteil v. 27.8.2019, B 1 KR 37/18 R).
Durch die Anhörung soll der Betroffene Gelegenheit erhalten, die vorgesehene Entscheidung der Krankenkasse bezüglich der Höhe des Zugriffs durch das Vorbringen von Tatsachen etc. günstig zu beeinflussen. Hierzu ist es notwendig, dass die Krankenkasse die entscheidungserheblichen Tatsachen dem betroffenen Versicherten in einer Weise unterbreitet, dass er sie als solche erkennen und sich zu ihnen, ggf. nach ergänzenden Anfragen bei der Krankenkasse, sachgerecht äußern kann. Welche Tatsachen für die Entscheidung erheblich und dem Betroffenen zur Äußerung mitzuteilen sind, richten sich nach Art und Inhalt der im Einzelfall in Betracht kommenden Entscheidung. Entscheidungserheblich sind grundsätzlich alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beitragen, auf die sich die Verwaltung bei der Entscheidung stützen kann (vgl. hierzu BSG, Urteil v. 15.8.2002, B 7 AL 38/01 R).
Die Anhörung ist an keine Form gebunden. Sie kann grundsätzlich schriftlich, mündlich oder sogar fernmündlich erfolgen (BSG, Urteil v. 31.3.1982, 4 RJ 21/81). Aus Beweisgründen sollte die Anhörung jedoch regelmäßig schriftlich durchgeführt werden.
Die Anhörung muss zeitlich so bestimmt sein, dass sich der Beteiligte zu dem gesamten Sachverhalt äußern kann. Die Anhörungsfrist sollte – ohne Berücksichtigung von Postlaufzeiten – mindestens 2 Wochen betragen (vgl. hierzu (BSG, Urteil v. 24.7.1980, 5 RKnU 1/79). Reagiert der Versicherte auf eine schriftlich durchgeführte Anhörung (§ 24 SGB X) nicht, nimmt also von seinem Anhörungsrecht keinen Gebrauch, darf sich der Versicherte später nicht beschweren, die Krankenkasse hätte bei der Entscheidung nicht alle seine individuellen Umstände berücksichtigt.
Rz. 15
Die gerichtliche Überprüfung der ordnungsgemäßen Ermessensausübung ist letztlich auf erkennbare Fehler bei der Ermessensausübung beschränkt (z. B. ob die individuellen, tatsächlichen Verhältnisse ausreichend berücksichtigt wurden). Trifft die Krankenkasse eine Entscheidung über die Höhe des "Rückgriffs" auf den Versicherten, fordert § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X, dass die Entscheidung zu begründen ist. Die begründete Ermessensentscheidung muss die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Krankenkasse bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Lässt der Bescheid nicht erkennen, welche Gesichtspunkte die Krankenkasse für ihre Ermessensentscheidung in welchem Umfang berücksichtigt hat, ergibt sich daraus ein Ermessensfehler. Die Entscheidung ist dann rechtswidrig. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Komm. zu § 39 SGB I verwiesen.