Prof. Dr. Volker Wahrendorf
Rz. 31
In Abs. 1 Satz 2 sind wesentliche Richtlinien aufgeführt, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassen werden bzw. als vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassen gelten. Die Auflistung bezieht sich auf Regelungsbereiche und nicht auf als Aufträge gesetzlich vorgegebene Richtlinien, weil diese vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu benennen sind, der als oberstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung die Richtlinien den Regelungsbereichen entsprechend erarbeitet. So gibt es z. B. für die vertragsärztliche Versorgung im Gegensatz zur vertragszahnärztlichen Versorgung keine formale ärztliche Behandlungsrichtlinie, sondern die vertragsärztliche Behandlung ist in verschiedenen Richtlinien geregelt, bei denen Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeuten oder zugelassene medizinische Versorgungszentren bei der Diagnostik und Therapie bzw. Verordnung oder Veranlassung der Leistungen der vertragsärztlichen Versorgung verantwortlich handeln. Darüber hinaus gibt es weitere Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, die auf der Basis der Vorschrift entwickelt worden sind, so z. B. über die Individualprophylaxe (§ 22), zur Überversorgung (§ 101) und zur Bedarfszulassung (§ 102), zur Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 135), zur Qualitätsbeurteilung und -sicherung in der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung (§§ 136, 136a, 136b), zur Erprobung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit Nutzenpotenzial (§ 137e), zum therapeutischen Nutzen neuer Heilmittel (§ 138).
Rz. 32
Die Formulierung "insbesondere" ist auch so zu verstehen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss die Möglichkeit hat, in Zukunft ohne Änderung des Gesetzes ergänzende Richtlinien zu den Regelungsbereichen zu beschließen, die sich aus § 92 oder den anderen genannten Rechtsvorschriften ergeben. So konnte auf der Grundlage von § 92 Abs. 1 Nr. 5 und § 135 in den früheren Methadon-Richtlinien (jetzt: Substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger – Anlage 1 Nr. 2 der Richtlinie Methoden vertragsärztlicher Versorgung, in der geänderten Fassung v. 16.7.2009 – BAnz 2009 S. 3005, in Kraft zum 29.8.2009) geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Substitutionsbehandlung bei heroinabhängigen Versicherten zulasten der Krankenkassen durchgeführt werden kann. Die Substitution darf deshalb auch nur von solchen Ärzten durchgeführt werden, die gegenüber ihrer KV die fachliche Befähigung und die Erfüllung der Voraussetzungen nach der Betäubungsmittelverordnung nachgewiesen haben und denen die KV eine Genehmigung zur Substitution erteilt hat. Das BSG hat die Übertragung der Befugnis zum Erlass dieser Richtlinien auf den Gemeinsamen Bundesausschuss als mit dem Grundgesetz vereinbar bezeichnet (Urteil v. 20.3.1996, 6 RKa 62/94; Urteil v. 17.12.2019, B 1 KR 18/19 R). Problematisch würde es aber, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss über die normierten Regelungsbereiche hinaus Richtlinien erlassen möchte, weil dazu die erforderliche Rechtsgrundlage fehlt.
Rz. 33
Nach der Geschäftsordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses i. d. F. v. 17.7.2008, zuletzt geändert am 16.3.2023 und in Kraft getreten am 8.6.2023, sind räumlich begrenzte und zeitlich befristete Sonderregelungen im Zusammenhang mit einem pandemischen Ausbruchsgeschehen eingeführt worden, die z. B. ein Abweichen von den Richtlinien ermöglichen.
Hat eine Gebietskörperschaft oder eine andere nach dem Infektionsschutzgesetz zuständige Behörde ein auf regional hohe Neuinfektionszahlen reagierendes Beschränkungskonzept erlassen, kann der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 9 Abs. 2 der Geschäftsordnung von Amts wegen oder auf Antrag des für die betroffene Gebietskörperschaft zuständigen Landes, der Unparteiischen, der Trägerorganisationen oder der anerkannten Patientenorganisationen in Abhängigkeit von der Art des pandemischen Ausbruchsgeschehens zur Eindämmung und Bewältigung der Infektionen oder zum Schutz der Einrichtungen der Krankenversorgung vor Überlastung notwendige und erforderliche Ausnahmen von seinen Rechtsformen zulassen. Diese Ausnahmen sind räumlich begrenzt und zeitlich befristet, ihr Inhalt und Umfang bestimmen sich nach den konkreten örtlichen Gegebenheiten. Die Beschlussfassung kann im schriftlichen Verfahren erfolgen; dem zuständigen Land ist unabhängig davon, ob es einen Antrag nach Satz 1 gestellt hat, vor der Beschlussfassung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Entsprechende Beschlüsse hat der Gemeinsame Bundesausschuss im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie zu verschiedenen Richtlinien gefasst, so z. B. zur Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, zur Arzneimittel-Richtlinie, Heilmittel-Richtlinie, Hilfsmittel-Richtlinie oder Krankentransport-Richtlinie. Die Sonderregelungen beziehen sich im Bereich der ärztlich verordneten Leistungen beispielsweise auf die telefonische Krankschreibung bei leichten Atemwegserkrankungen, Folgeverordnungen für Heil- und Hilfsmittel nach telefonischer Anamnese oder für Krankentransporte von COVID-19-positiven Versicherten. Zudem können ...