Leitsatz
Die Nichtigkeitsklage ist nicht statthaft, wenn mit ihr lediglich eine Verletzung der Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union geltend gemacht wird.
Normenkette
§ 134 FGO, § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, Art. 267 AEUV
Sachverhalt
Die Klägerin hatte u.a. im Revisionsverfahren eine Vorlage an den EuGH angeregt. Der BFH hatte die Revision gleichwohl ohne Vorlage zurückgewiesen (BFH, Urteil vom 17.5.2021, IX R 20/18, Haufe-Index 14824383, BFH/NV 2021, 1610). Um vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg auszuschöpfen, hat die Klägerin sodann gegen das zurückweisende Revisionsurteil Nichtigkeitsklage beim BFH erhoben.
Entscheidung
Der BFH hat die Nichtigkeitsklage als unzulässig abgewiesen. In zukünftigen Fällen ist damit der Weg zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde ohne vorherige Erhebung einer Nichtigkeitsklage frei.
Hinweis
Von Bedeutung ist die Entscheidung v. a. für Kläger, die eine Verfassungsbeschwerde einlegen wollen, weil der BFH oder das FG ihrer Anregung, die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorzulegen, nicht nachgekommen ist. Die Nichtbeachtung einer Vorlageverpflichtung verletzt den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), denn der EuGH ist gesetzlicher Richter für die Auslegung des Europarechts. Sie kann und muss mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, wenn ein anderes Rechtsmittel nicht mehr zur Verfügung steht. Das BVerfG überwacht und sanktioniert dann ggf. die Nichteinhaltung der Vorlageverpflichtung durch die Fachgerichte.
Streitig war, ob unter diesen Umständen vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde eine Nichtigkeitsklage gegen das Urteil erhoben werden muss, um den Rechtsweg auszuschöpfen. Die Erschöpfung des Rechtswegs ist Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Zum Rechtsweg gehören alle statthaften Rechtsmittel und -behelfe. Es kam also darauf an, ob die Nichtigkeitsklage statthaft ist, wenn mit ihr lediglich die Nichtbeachtung einer Vorlageverpflichtung gerügt wird. Unter welchen Voraussetzungen ein im Gesetz vorgesehenes Rechtsmittel statthaft ist, hängt in erster Linie von der Auslegung des einfachen Rechts (hier: ZPO) ab und ist im Grundsatz keine verfassungsrechtliche Frage.
Der BFH hat die Frage nun verneint und damit eine bereits gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung rückgängig gemacht.
1. Nach § 134 FGO i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist die Nichtigkeitsklage statthaft ("findet statt"), wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Das ist der Fall, wenn mindestens ein nicht zur Entscheidung berufener Richter über den Fall (mit-)entschieden hat bzw. wenn ein zur Entscheidung berufener Richter an der Entscheidung nicht mitgewirkt hat, wenn also die Richterbank unrichtig besetzt war.
2. Kein Besetzungsmangel liegt dagegen vor, wenn das personell richtig besetzte Gericht seine Vorlageverpflichtung (zu Unrecht) verneint oder übersieht. Dann verletzt es zwar den Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Richter, das "erkennende Gericht" ist aber nicht fehlerhaft besetzt. Wird mit der Nichtigkeitsklage lediglich eine Verletzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH geltend gemacht, ist die Nichtigkeitsklage mithin nicht statthaft und gehört nicht zum Rechtsweg (Leitsatz).
3. Eine andere Auslegung ist weder aus systematischen noch aus übergeordneten rechtlichen Gründen geboten (wird im Urteil näher ausgeführt).
4. Abweichend davon hatten bereits drei Senate des BFH entschieden, dass die Nichtigkeitsklage statthaft ist, wenn mit ihr eine Verletzung der Vorlageverpflichtung gerügt wird. Diese Senate haben auf Anfrage mitgeteilt, an ihrer Rechtsauffassung nicht mehr festhalten zu wollen. Damit konnte der IX. Senat die bisherige Rechtsprechung ohne Anrufung des Großen Senats korrigieren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 10.10.2023 – IX K 1/21