Aktuelle Abgrenzungsfragen anhand der Beispiele Kirchensteuer sowie Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäfte
[Ohne Titel]
VorsRiLG Helmut Tormöhlen
Steuerhinterziehung (§ 370 AO) und Betrug (§ 263 StGB) weisen als Straftatbestände zwar Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Punkten. Beim Betrug ist eine Täuschung oder Irrtumserregung nicht erforderlich. Bei der Steuerhinterziehung ist der Eintritt eines Vermögensschadens nicht Voraussetzung. Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäfte bilden exemplarische Fälle der Konkurrenz zwischen (bandenmäßigem) Betrug und Steuerhinterziehung.
I. Dogmatische Grundlagen
Steuerhinterziehung (§ 370 AO) und Betrug (§ 263 StGB) weisen als Straftatbestände zwar Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich jedoch in ganz wesentlichen Punkten. Beide Delikte sind Erfolgsdelikte und beiden Normen ist gemein, dass das mehr oder weniger heimliche Täterverhalten zu einer vermögensmäßigen Schlechterstellung des Geschädigten führt oder im Falle des Versuchs (§§ 23, 263 Abs. 2 StGB; § 370 Abs. 2 AO) führen soll.
Steuerhinterziehung ist nach h.M. ein Delikt, das als Rechtsgut der Allgemeinheit das staatliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen jeder einzelnen Steuer schützt (BVerfG v. 29.4.2010 – 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, wistra 2010, 396; BGH v. 1.8.2000 – 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107; v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71; v. 22.11.2012 – 1 StR 537/12, wistra 2013, 199; BFH v. 19.8.2008 – VII R 6/07, BStBl. II 2008, 947; gl.A. Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 13 [Februar 2019]; Hoyer in Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 7 [Februar 2022]; Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 6; Jäger in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 370 AO Rz. 2; krit. Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 27 ff. [Juli 2019]).
In der Lit. wird dagegen teilweise darauf abgestellt, dass geschütztes Rechtsgut das staatliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der Steuern im Ganzen sei (Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 29 m.w.N.; Schmitz / Wulf in MünchKomm/StGB, 3. Aufl. 2019, § 370 AO Rz. 6 ff.; Tormöhlen in Papperitz/Keller, ABC Betriebsprüfung, Fach 5, Stichwort "Steuerhinterziehung" Rz. 1 [September 2019]; wohl auch Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 55 [Mai 2022]).
Betrug ist demgegenüber ein Delikt, das fremdes Vermögen gegen Täuschung schützt (Kühl in Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 263 Rz. 2 m.w.N.). Geschützt ist sowohl das private wie auch das Vermögen der öffentlichen Hand, und zwar inländisches wie ausländisches Staatsvermögen oder das Vermögen der EU (Perron in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 263 Rz. 1/2).
Täuschung oder Erregung eines Irrtums bei Betrug – anders als bei der Steuerhinterziehung – nicht erforderlich: Betrug setzt im Gegensatz zu Steuerhinterziehung keine Täuschung bzw. die Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen gegenüber einer anderen Person voraus. Der sachbearbeitende Finanzbeamte muss also bei Bearbeitung des Steuerfalls keinem Irrtum erliegen. So scheidet eine (vollendete) Steuerhinterziehung durch Unterlassen aus, wenn die FinBeh. bei Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen Kenntnis hat. Denn ein Steuerpflichtiger kann das FA nicht i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in Unkenntnis lassen, wenn dieses tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist (vgl. hierzu OLG Köln v. 31.1.2017 – 1 RVs 253/16, wistra 2017, 363; OLG Oldenburg v. 10.7.2018 – 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79; str.; Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 148; a.A. BFH v. 28.4.1998 – IX R 49/96, BStBl. II 1998, 458; Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 148 ff. [Juli 2019]; Jäger in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 370 Rz. 60b.
Weiterhin setzt Betrug einen Schaden voraus. Dies ist der Fall, wenn der wirtschaftliche Gesamtwert des Vermögens durch die Verfügung des Getäuschten vermindert wird (Kühl in Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 263 Rz. 36 m.w.N.). Vermögensschaden beim Betrug ist die Vermögensminderung infolge der Täuschung, also der Unterschied zwischen dem Wert des Vermögens vor und nach der Täuschung (st. Rspr.; statt vieler BGH v. 18.7.1961 – 1 StR 606/60, NJW 1961, 1876; OLG München v. 11.11.2013 – 4 StRR 184/13, BeckRS 2014, 00901; Gaede in Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Aufl. 2020, § 263 Rz. 100; krit. Perron in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 263 Rz. 99 ff.).
Dass bei der Steuerhinterziehung der Eintritt eines Vermögensschadens nicht vorausgesetzt ist, wird bereits dadurch klar, dass § 370 Abs. 4 AO den Erfolg einer Steuerhinterziehung dahingehend definiert, dass Steuern verkürzt sind, wenn sie nicht, nicht i...