[Ohne Titel]
Dr. Olaf Schermann, RA/FAErbR
Der folgende Beitrag gibt im Anschluss an die Darstellung in ErbStB 2022, 318 (Heft 10) einen Überblick über praxisrelevante höchst- und obergerichtliche Entscheidungen im Erbrecht, die im zweiten Halbjahr 2022 ergangen sind. Den Schwerpunkt bilden Entscheidungen zur Testamentserrichtung und -auslegung, zum Pflichtteilsrecht und zum Nachlassverfahren.
1. Testamentserrichtung und -auslegung
a) Anforderungen an ein Drei-Zeugen-Testament
Trotz pandemiebedingter Kontaktbeschränkung setzt die Errichtung eines Drei-Zeugen-Testaments voraus, dass sich der Erblasser in so naher Todesgefahr befunden hat, dass voraussichtlich weder die Errichtung eines Testaments vor einem Notar (§ 2232 BGB) noch vor einem Bürgermeister (§ 2249 BGB) möglich gewesen wäre.
OLG Brandenburg v. 4.10.2022 – 3 W 109/22
BGB § 2232, § 2249, § 2250
Beraterhinweis Für die Todesgefahr i.S.v. § 2250 Abs. 2 BGB ist maßgebend, ob aufgrund konkreter Umstände der Tod des Erblassers vor dem Eintreffen des Notars oder Bürgermeisters zu befürchten ist. Eine jederzeit drohende Testierunfähigkeit steht der Todesgefahr gleich, wenn sie voraussichtlich durchgängig bis zum Tode fortdauert (BGH v. 15.11.1951 – IV ZR 66/51, BGHZ 3, 372 = NJW 1952, 181; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 2250 Rz. 3). Die nahe Gefahr des Todes oder der Testierunfähigkeit muss dabei entweder objektiv vorliegen oder nach Überzeugung aller drei Testamentszeugen subjektiv bestehen (BGH v. 15.11.1951 – IV ZR 66/51, BGHZ 3, 372 = NJW 1952, 181; OLG München v. 12.5.2015 – 31 Wx 81/15, NJW-RR 2015, 1034; OLG Hamm v. 10.2.2017 – 15 W 587/15, FamRZ 2017, 1782). Ist der Erblasser nur körperlich zu schwach, um ein eigenhändiges Testament errichten zu können, sind die Voraussetzungen für die Errichtung eines Drei-Zeugen-Testaments nicht erfüllt (OLG München v. 12.5.2015 – 31 Wx 81/15, NJW-RR 2015, 1034; OLG Düsseldorf v. 3.3.2017 – 3 Wx 269/16, NJW-RR 2017, 905).
Indiz für eine nahe Todesgefahr kann sein, wenn der Erblasser einen Tag (BayObLG v. 26.10.1990 – BReg. 1a Z 19/90, BayObLGZ 1990, 294) oder zwei Tage (OLG Düsseldorf v. 25.6.2015 – 3 Wx 224/14, FamRZ 2016, 166) nach Testamentserrichtung verstirbt. Bei einem Zeitraum von zwölf Tagen oder mehr als zwei Wochen zwischen Testamentserrichtung und Tod kann eine solche Indizwirkung dagegen nicht mehr angenommen werden (KG v. 22.6.2022 – 6 W 7/21, ZEV 2022, 662; OLG München v. 14.7.2009 – 31 Wx 141/08, NJW 2010, 684). Selbst eine bösartige Grunderkrankung, aufgrund derer der Erblasser laut behandelndem Arzt innerhalb von ein bis zwei Tagen versterben könnte, reicht nicht aus, wenn innerhalb dieser Zeit noch ein Notar erreichbar wäre (OLG Hamm v. 10.2.2017 – 15 W 587/15, FamRZ 2017, 1782).
b) Zulässigkeit der sog. "Dieterle-Klausel"
Eine testamentarische Regelung, wonach als Nacherben die Personen bestimmt werden, die der Vorerbe zu seinen Erben einsetzt, verstößt nicht gegen § 2065 Abs. 2 BGB.
KG v. 25.8.2022 – 1 W 262/22
BGB § 2065, § 2100
Beraterhinweis Um die Kinder in ihrer Entscheidungsfreiheit möglichst wenig einzuschränken, wurde bei Geschiedenentestamenten lange Zeit die sog. "Dieterle-Klausel" (benannt nach dem Vorschlag von Dieterle, BWNotZ 1971, 14) empfohlen, mit der als Nacherben diejenigen Personen berufen werden, die der Vorerbe selbst als eigene Erben einsetzt. Ob eine solche Regelung zulässig (so Otte in Staudinger, BGB, § 2065 Rz. 48; Leipold in MünchKomm/BGB, § 2065 Rz. 24; Weidlich in Grüneberg, BGB, § 2065 Rz. 6; ebenso zur Ersatzerbeinsetzung OLG Hamm v. 21.2.2019 – 15 W 24/19, NJW-RR 2019, 585) oder wegen Verstoßes gegen das Drittbestimmungsverbot des § 2065 Abs. 2 BGB unwirksam ist (so OLG Frankfurt v. 10.12.1999 – 20 W 224/97, FamRZ 2000, 1607; Hölscher in BeckOGK/ZivilR, § 2151 BGB Rz. 65 ff.; Lamberz, Rpfleger 2019, 457), wird nach wie vor unterschiedlich beurteilt. Selbst Anhänger der Klausel halten sie für eine grenzwertige Gestaltung (s. Ivo, DNotZ 2002, 260); vielfach wird von ihrer Verwendung deshalb abgeraten (s. Nieder/Kössinger, Testamentsgestaltung, § 21 Rz. 41a; Reimann, ZEV 2019, 278).
Im Hinblick auf die neueste Entwicklung in der Rspr. ist die Klausel durchaus einsetzbar, jedoch sollte man bis zu einer endgültigen Klärung der Zulässigkeitsfrage stets eine ausdrückliche Ersatznacherbeinsetzung für den Fall der Unwirksamkeit treffen.
c) Wechselbezüglichkeit der Anwachsung im gemeinschaftlichen Testament
Die Grundsätze zur fehlenden Wechselbezüglichkeit einer Ersatzerbeneinsetzung, sofern sie auf § 2069 BGB beruht, sind nicht mit der Bestimmung zur Anwachsung nach § 2094 Abs. 1 Satz 1 BGB vergleichbar und damit nicht übertragbar.
OLG Oldenburg v. 26.8.2022 – 3 U 37/22
BGB § 2069, § 2094, § 2270, § 2271
Beraterhinweis Fällt ein im gemeinschaftlichen Testament eingesetzter Schlusserbe weg, ist die für die Wechselbezüglichkeit sprechende Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB auf die Ersatzerbeinsetzung nur anwendbar, wenn diese nicht allein auf der Auslegungsregel des § 2069 BGB beruht (BGH v. 16.1.2002 – IV ZB 20/01, BGHZ 149, 363 = NJW 2002, 1126; OLG München v. 20.4.2010 – 31 Wx...