Leitsatz
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob § 174 Abs. 3 AO die Rechtsgrundlage dafür bietet, bestandskräftige Steuerbescheide in der Weise zu ändern, dass ein Entnahmegewinn steuerlich berücksichtigt wird, den das FA seinerzeit wegen Nichtanwendung der BFH-Rechtsprechung zur Bedeutung von Einstimmigkeitsabreden bei der Betriebsaufspaltung nicht erfasst hat (Bedenken gegen die Richtigkeit der im BMF-Schreiben vom 7.10.2002, BStBl I 2002, 1028, unter V.1. vertretenen Auffassung).
Normenkette
§ 174 Abs. 3 AO , § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG
Sachverhalt
Eine GbR hatte ihr Grundstück an eine GmbH vermietet. An beiden Gesellschaften waren unmittelbar bzw. mittelbar dieselben Personen beteiligt. Laut Gesellschaftsvertrag waren die Beschlüsse der GbR einstimmig zu fassen. Im Jahr 1995 gaben zwei Gesellschafter der GbR ihre mittelbare Beteiligung an der GmbH auf. Im Jahr 1999 endete der Mietvertrag über das Grundstück.
Die GbR war von einer Betriebsaufspaltung ausgegangen und hatte ihre Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb erklärt. Das FA hatte entsprechende Gewinnfeststellungsbescheide erlassen. Im Zusammenhang mit einer Betriebsprüfung beantragte die GbR im Hinblick auf das Einstimmigkeitserfordernis eine Aufhebung aller Feststellungsbescheide, auch des Bescheids für 1995. Das FA war anderer Meinung und lehnte die Anträge bestandskräftig ab.
Nach einer späteren Betriebsprüfung für Folgejahre vertrat das FA die Ansicht, die sachliche Verflechtung sei im Jahr 1999 entfallen. Nach geänderter Auffassung der Finanzverwaltung zur Einstimmigkeitsabrede sei zuvor aber bereits 1995 die personelle Verflechtung entfallen. Es sei deshalb für 1995 ein Aufgabegewinn festzustellen. Dem stehe die Bestandskraft des Feststellungsbescheids nicht entgegen, weil die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO vorlägen. Das FA sei von einer späteren Besteuerung bei Beendigung der Betriebsaufspaltung ausgegangen; diese Annahme habe sich nachträglich als unrichtig erwiesen.
Gegen den daraufhin ergangenen Änderungsbescheid legte die GbR Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Das FG gab dem Aussetzungsantrag statt.
Entscheidung
Die Beschwerde des FA hatte keinen Erfolg. Es sei ernstlich zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO vorlägen. Den Wegfall der personellen Verflechtung habe das FA wegen der damaligen Verwaltungsauffassung nicht zum Anlass für eine Besteuerung genommen. Das sei nicht in der Annahme geschehen, dass die Besteuerung dieses Sachverhalts in einem späteren Veranlagungszeitraum erfasst werden müsse.
Hinweis
1. Ihren langjährigen Widerstand gegen die Einstimmigkeits-Rechtsprechung des BFH hat die Finanzverwaltung schließlich mit BMF-Schreiben vom 7.10.2002 (BStBl I 2002, 1028) aufgegeben. Sie erkennt seither an, dass in den betreffenden Fällen keine personelle Verflechtung und damit keine Betriebsaufspaltung besteht.
2. Die Änderung der Verwaltungsauffassung ist mit einer Übergangsregelung versehen. U.a. heißt es dort, bei einer nach bisheriger Handhabung zu Unrecht angenommenen echten Betriebsaufspaltung solle rückwirkend eine Entnahme im Zeitpunkt der Übertragung der Wirtschaftsgüter auf die Betriebsgesellschaft besteuert werden. Bestandskräftige Bescheide sollten dazu nach § 174 Abs. 3 AO geändert werden.
Diese Lösung wird vom Schrifttum hart kritisiert. Die Besteuerung der an sich vorliegenden Entnahme bei Übertragung des Wirtschaftsguts auf die Betriebsgesellschaft sei nicht unterblieben, weil von einer späteren Besteuerung des nämlichen Sachverhalts (Entnahme) ausgegangen worden sei. Vielmehr sei die Besteuerung der Entnahme in der Erwartung unterblieben, dass ein anderer Sachverhalt, nämlich die Beendigung der Betriebsaufspaltung zur Besteuerung führen werde.
3. Der BFH lässt erkennen, dass er die Zweifel des Schrifttums teilt. Allerdings betrifft der Besprechungsfall einen etwas anders gelagerten Sachverhalt. Denn zunächst lag wegen Personenidentität der Gesellschafter unzweifelhaft eine Betriebsaufspaltung vor. Diese endete im Hinblick auf die Einstimmigkeitsrechtsprechung durch Austritt von Gesellschaftern aus der Betriebsgesellschaft.
Nach den veröffentlichten Entscheidungsgründen kann aber kein Zweifel bestehen, dass der BFH eine Aussetzung der Vollziehung auch in einem Fall gewähren würde, in dem von Anfang an wegen der Einstimmigkeitsabrede keine Betriebsaufspaltung bestand.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 18.8.2005, IV B 167/04