Leitsatz
Das BMF wird zum Beitritt in dem Revisionsverfahren aufgefordert, in dem die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Einkünften aus Spekulationsgeschäften i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für das Kalenderjahr 1997 geltenden Fassung streitig ist.
Normenkette
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F.
Sachverhalt
In der Einkommensteuer-Erklärung wurde ein Spekulationsgewinn aus Wertpapier-Spekulationsgeschäften erklärt und vom FA erklärungsgemäß berücksichtigt.
Die Sprungklage blieb vor dem Schleswig-Holsteinischen FG ohne Erfolg (Urteil vom 23.9.1999, V 7/99, EFG 2000, 178). Das FG war der Auffassung, es bestehe nicht in erster Linie ein strukturelles Erhebungsdefizit. Die gerügte Finanzamtspraxis beruhe vielmehr auf dem allgemeinen "maßvollen Gesetzesvollzug", also nicht auf einer gleichheitswidrigen Bevorzugung speziell von Spekulationsgewinnen, sondern auf dem allgemeinen durch Personalmangel bedingten Vollzugsdefizit auch in anderen Bereichen, wie z.B. in der nicht ausreichenden Durchführung von Außenprüfungen.
Der Kläger strebt eine Vorlage an das BVerfG an.
Entscheidung
Der BFH hat das BMF nach § 122 Abs. 2 Satz 3 FGO zum Verfahrensbeitritt aufgefordert. Sofern das BMF – was zu erwarten ist – dem Verfahren beitritt, erhält es dadurch das Recht, sich im Verfahren zu äußern und eigene Anträge zu stellen. Der BFH bittet, zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen:
1. Welche rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten standen den Finanzämtern im Streitjahr zur Verfügung, um vorgelegte Einkommensteuer-Erklärungen auf ihre Vollständigkeit hinsichtlich der von den Steuerpflichtigen erklärten Spekulationsgewinne zu überprüfen? Welche Möglichkeiten bestanden darüber hinaus, um nicht erklärte Spekulationsgewinne zu ermitteln?
2. Welche rechtlichen und tatsächlichen Hindernisse standen gegebenenfalls einer vollständigen Erfassung und Verifizierung von Einkünften aus Spekulationsgeschäften i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. im Streitjahr entgegen?
Der BFH beabsichtigt, bereits am 16.7.2002 in dieser Sache mündlich zu verhandeln.
Hinweis
Die Brisanz des Falls besteht darin, dass es sich – wie in den Medien bereits berichtet – um ein Verfahren in eigener Sache des prominenten Steuerrechtlers Prof. Dr. Klaus Tipke, Köln, handelt. Für das Streitjahr (1997) galt noch die sechsmonatige Spekulationsfrist, die ab 1999 auf ein Jahr verlängert wurde.
Tipke macht einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz mit der Begründung geltend, ein Steuergesetz müsse die Steuerpflichtigen nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich gleich belasten. An dieser tatsächlichen Belastungsgleichheit fehle es. Denn die Finanzverwaltung habe keine Kontrollmechanismen eingeführt, um nicht erklärte Spekulationsgewinne aufzuspüren. Deshalb würden – ausweislich statistischer Erhebungen – Spekulationsgewinne praktisch nie erklärt.
Tipke beruft sich auf die Zinsentscheidung des BVerfG vom 27.6.1991, 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654. Das BVerfG hatte wegen des Bankenerlasses einen strukturellen Erhebungsmangel bei der Besteuerung von Zinseinkünften beanstandet. Ebenso bestehe bei der Erfassung der Spekulationseinkünfte ein genereller Vollzugsmangel, so dass die Ehrlichen die Dummen seien.
Aus der Aufforderung zum Verfahrensbeitritt kann keinesfalls schon gefolgert werden, dass der Senat die verfassungsrechtlichen Bedenken im Ergebnis teilt. Er sieht das Problem lediglich als hinreichend ernsthaft an und hält die Prüfung der Frage für erforderlich, ob tatsächlich ein strukturelles Erhebungsdefizit besteht, das zur Besteuerungsungleichheit zulasten der Steuerehrlichen führt.
Bis zur endgültigen Klärung der Streitfrage sind entsprechende Fälle unbedingt offen zu halten.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 19.3.2002, IX R 62/99