Leitsatz
1. Vor einer Entscheidung nach den Regeln der Feststellungslast ist vorrangig regelmäßig der entscheidungserhebliche Sachverhalt aufzuklären oder, soweit dies nicht gelingt, eine Reduzierung des Beweismaßes unter Berücksichtigung von Mitwirkungspflichtverletzungen vorzunehmen.
2. Die Grundsätze über eine Reduzierung des Beweismaßes gelten auch für die Feststellung, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt sind.
Normenkette
§ 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1 FGO, § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Gegenstand des Unternehmens des Klägers war der Im- und Export sowie die Vermittlung von Industrieprodukten. Im Rahmen einer Außenprüfung nahm der Prüfer "aus formellen Gründen und wegen fehlender Nachweise" eine Kürzung des zunächst gewährten Betriebsausgabenabzugs für Reisekosten mit der Begründung vor, in den Belegordnern seien Reisekostenabrechnungen und Hotelrechnungen nur sporadisch vorhanden gewesen. Das FA änderte – gestützt auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – die Steuerbescheide der Streitjahre, da die ursprünglichen Steuerbescheide nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen.
Die dagegen erhobene Klage hatte in diesem Punkt Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 07.11.2008, 1 K 2012/07 E, Haufe-Index 2263697, EFG 2010, 99). Das FG führte aus, das FA hätte zwar den Betriebsausgabenabzug materiell-rechtlich versagen dürfen, da weder die Aufzeichnungen noch die Erläuterungen des Klägers geeignet gewesen seien, die betriebliche Veranlassung der Reisekosten nachzuweisen oder auch nur glaubhaft zu machen. Es könne aber umgekehrt aus dem Vorbringen des FA nicht auf eine fehlende betriebliche Veranlassung geschlossen werden. Da das FA selbst bei unzureichender Mitwirkung des Steuerpflichtigen die objektive Feststellungslast für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trage, müssten die Sachverhaltsunklarheiten zulasten des FA gehen.
Entscheidung
Die Revision des FA war begründet. Sie führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Das FG hatte keine Feststellungen getroffen, aufgrund derer die entscheidungserhebliche Frage hätte beurteilt werden können, ob dem FA "Tatsachen" nachträglich bekannt geworden waren.
Hinweis
Das Urteil beleuchtet das Zusammenspiel zwischen der richterlichen Pflicht zur Sachaufklärung bei verweigerter Mitwirkung des Steuerpflichtigen und der Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast als ultima ratio.
1. Es ist Aufgabe des FG, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären (§ 76 Abs. 1 S. 1 FGO). Dabei sind die Beteiligten mit heranzuziehen (§ 76 Abs. 1 S. 2 FGO). Bleiben die gerichtlichen Versuche zur Sachaufklärung erfolglos, weil ein Beteiligter, der über eine besondere Beweisnähe verfügt, die ihm zumutbare Mitwirkung an der Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 S. 3 FGO) verweigert, muss das FG erwägen, ob das im konkreten Einzelfall für die richterliche Überzeugungsbildung erforderliche – aber auch ausreichende – Beweismaß gegenüber dem Regelbeweismaß zu reduzieren ist. Das Beweismaß kann sich dann auf eine "größtmögliche Wahrscheinlichkeit" verringern. Die Grundsätze über eine Reduzierung des Beweismaßes gelten für sämtliche vom FG vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen. Erst dann sind die Regeln über die Feststellungslast anzuwenden.
2. Werden diese Grundsätze auf die Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO angewandt, führt das zu dem folgenden Ergebnis: In einer prozessualen Konstellation, in der das Regelbeweismaß nach Ausschöpfung der Sachaufklärungsbemühungen des FG infolge fehlender Mitwirkung der beweisnahen Beteiligten reduziert ist, kann das Vorliegen einer "Tatsache" i.S.d. § 173 AO auch dann prozessordnungsgemäß "festgestellt" werden, wenn zwar keine förmliche und volle Überzeugungsbildung möglich ist, aber mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen einer konkreten Tatsache geschlossen werden kann. Dadurch werden Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten nicht etwa selbst zur Tatsache; sie können aber – in der gesteigerten Form der "größtmöglichen Wahrscheinlichkeit" – in den dargestellten prozessualen Ausnahmekonstellationen den Schluss auf das tatsächliche Vorliegen oder Nichtvorliegen konkreter Tatsachen ermöglichen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 23.03.2011 – X R 44/09