Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
1. Bei der Prüfung, ob ein volljähriges behindertes Kind, welches das 27. Lebensjahr vollendet hat, behinderungsbedingt außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist auf den Kalendermonat abzustellen.
2. Sonderzuwendungen, Gratifikationen usw., die in größeren als monatlichen Zeitabständen gewährt werden, sowie einmalige Einnahmen sind von dem Monat an zu berücksichtigen, in dem sie anfallen; soweit im Einzelfall keine andere Regelung angezeigt ist, sind sie auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag anzusetzen.
3. Jährlich anfallende Einnahmen – wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld usw. – sind auf den Zuflussmonat und die nachfolgenden elf Monate aufzuteilen.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Das zu 70 % behinderte Kind M befand sich von 1994 bis 9.6.1997 in Berufsausbildung. Die Ausbildungsvergütung betrug ab 1.1.1996 monatlich 1.167,11 DM, ab 1.8.1996 monatlich 1.243,83 DM. Außerdem erhielt es 1996 Weihnachts- und Urlaubsgeld i.H.v. 1.656,94 DM. Nach Beendigung der Ausbildung war M arbeitslos.
Der Beklagte hob die Kindergeldfestsetzung ab 1.1.1996 auf, weil der Jahresgrenzbetrag überschritten sei und die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht gegeben seien. Das FG wies die Klage ab (EFG 2003, 472).
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil des FG auf und verwies die Sache an das FG zurück. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes bestimme sich nach dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf. Für die Berechnung dieses Bedarfs sei vom Monatsprinzip auszugehen. Das gelte jedoch nicht für einmalige Sonderzahlungen. Diese seien nach dem sog. normativen Zuflussprinzip zu verteilen. Das Urteil des FG sei aufzuheben, weil noch zu prüfen sei, ob die Behinderung kausal für die Bedürftigkeit des Kindes gewesen sei; das sei nur dann der Fall, wenn es nur wegen dieser Behinderung – und nicht aus anderen Gründen – außerstande gewesen sei, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Hinweis
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein über 18 Jahre altes Kind beim Familienleistungsausgleich zu berücksichtigen, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten". Sich selbst unterhalten kann das Kind dann nicht, wenn seine finanziellen Mittel nicht ausreichen, um seinen allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken.
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kindes bestimmt sich grundsätzlich nach dem Monatsprinzip; ich verweise insoweit auf die Anmerkung in BFH-PR 2004, 137. Welcher Betrag in den jeweiligen Monaten anzusetzen ist, bestimmt sich grundsätzlich nach den in den jeweiligen Monaten tatsächlich zufließenden Mitteln.
Ungeklärt war aber bisher, wie Sonderzahlungen (z.B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld etc.) zu behandeln sind. Bei einem Kind in Berufsausbildung hat der BFH diese Sonderzahlungen wegen des nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geltenden Jahresprinzips den jeweiligen Monaten zugeordnet, für die sie geleistet worden sind ( Grundsatz der wirtschaftlichen Zurechnung, vgl. dazu näher BFH, Urteil vom 19.8.2004, VIII R 82/01, BFH-PR 2003, 54). Für die Ermittlung des Lebensbedarfs behinderter Kinder gilt das Jahresprinzip nicht; damit konnten die Sonderzahlungen auch nicht nach dem Grundsatz der wirtschaftlichen Zurechnung verteilt werden. Hier bietet sich als Zurechnungsprinzip vielmehr das von der Rechtsprechung des BVerwG zum Bundessozialhilfegesetz entwickelte normative Zuflussprinzip an: Mittel, die im jeweiligen Monat für den Lebensbedarf nicht benötigt werden, sind in die folgenden Monate bis zum Ablauf eines angemessenen Zeitraums vorzutragen, eine Weihnachtsgratifikation also z.B. mit 11/12 in das nächste Jahr.
Damit sind beim Kindergeld nicht nur zwei, das tatsächliche Zuflussprinzip ergänzende weitere Zuflussprinzipien zu berücksichtigen; es stellen sich auch neue Abgrenzungsprobleme. Der BFH hat mit seinem Urteil vom 19.8.2002, VIII R 51/01 (BFH-PR 2003, 53) entschieden, dass das Vermögen eines behinderten Kindes bei der Bestimmung seiner Bedürftigkeit nicht zu berücksichtigen sei. Ab wann aber ist eine Zuwendung noch auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen und ab wann ist sie bereits "Vermögen"?
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 24.8.2004, VIII R 83/02