Rz. 55
Umsetzung europarechtlicher Vorgaben. Die Umsetzung der §§ 138d ff. AO folgt unmittelbar aus europarechtlichen Vorgaben, konkret der Änderung der EU-Amtshilferichtlinie (2011/16/EU). Die innerstaatliche Umsetzung ist zudem sehr eng an diesen Vorgaben orientiert. Vor diesem Hintergrund ist zunächst – mit Blick auf das EU-Sekundärrecht in Form der Amtshilferichtlinie – von einer weitgehenden europarechtlichen Konformität der Regelungen auszugehen.
Rz. 56
Mögliche Konflikte mit EU-Primärrecht. Auf Bedenken stoßen die Regelungen demgegenüber, wenn der Maßstab des EU-Primärrechts zur Anwendung kommt. Gemessen am EU-Primärrecht lässt die Mitteilungspflicht durchaus Beschränkungen der Grundfreiheiten erkennen, die auch nicht durch unionsrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt werden können. Insbesondere kann ein Verstoß gegen die Dienstleistungs-, Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit darin gesehen werden, dass für eine Vielzahl von mitteilungspflichtigen Konstellationen keine Mitteilungspflicht für den entsprechenden Inlandsfall existiert. Nach zutreffender h.M. kann diese Beschränkung auch nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden.
Rz. 57
Mögliche Konflikte mit der EU-Grundrechtecharta. Die Mitteilungspflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen können ferner Verstöße gegen die Grundrechtecharta (GrCh) mit sich bringen. Wenngleich Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh in erster Linie die Unionsorgane bindet, können auch alle Gewalten der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zur Berücksichtigung verpflichtet sein. Der Begriff der Durchführung wird vom EuGH in diesem Kontext weit ausgelegt, womit auch die mitgliedstaatliche Umsetzung, Durchsetzung und Rechtsprechung im Zusammenhang den §§ 138 ff. AO die GrCh berücksichtigen muss. So stellen die Mitteilungspflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GrCh sowie die Achtung des Privat- und Familienlebens und den Schutz personenbezogener Daten nach Art. 7, 8 GrCh dar. In der Folge müssen diese Eingriffe gerechtfertigt sein und mit Blick auf beide Grundrechte den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Gerade im Bereich des Datenschutzes legt der EuGH grundsätzlich einen strengen Maßstab an (welcher allerdings im Steuerrecht in nicht nachvollziehbarer Weise bislang noch keine Bedeutung erlangen konnte). Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne können die Mitteilungspflichten nur in einem angemessenen Verhältnis zur Zielsetzung stehen, wenn vordergründig vom Gesetzeszweck beabsichtigte Gestaltungen erfasst werden. Beispielsweise hinsichtlich der Kennzeichen betreffend die Übertragung schwer zu bewertender immaterieller Werte sowie die Übertragung oder Verlagerung von Funktionen, Risiken, Wirtschaftsgütern oder sonstigen Vorteilen mit erheblicher Gewinnauswirkung beim Übertragenden erscheint der Tatbestand der Kennzeichen zu unbestimmt und zu weit gefasst, um zielgerecht die intendierten Gestaltungen zu erfassen.
Rz. 58
Beim EuGH anhängige Verfahren. Gegenwärtig muss sich der EuGH mit zwei anhängigen Verfahren zur Vereinbarkeit der DAC6-Mitteilungspflichten mit der GrCH befassen. Sowohl das belgische als auch das französische Vorabentscheidungsersuchen stützt sich auf den durch Art. 7 und 47 GrCh verbürgten Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses. Gleichwohl sind keine unmittelbaren Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage zu erwarten. Denn der deutsche Gesetzgeber hat bei der streitgegenständlichen Regelung einen grundsätzlich anderen Weg gewählt, dem keine vergleichbaren Bedenken gegenüberstehen.
Rz. 59– 70
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