Rz. 120
EU-Zinsbesteuerungsabkommen bzw. EU-Informationsaustauschabkommen. Nach Art. 15 des EU-Zinsbesteuerungsabkommens mit der Schweiz (EU-ZinsBestA) (heute: Art. 9 EU-Informationsaustauschabkommen – EU-IAA) unterliegen unter bestimmten Voraussetzungen Dividenden (Abs. 1), Zinsen und Lizenzgebühren (Abs. 2) einem Quellenbesteuerungsverbot. Angesichts der im DBA-Schweiz enthaltenen günstigeren Regelungen in Art. 10 DBA-Schweiz hat Deutschland von einer Umsetzung der Entlastungsregelung betreffend Dividenden (anders für Zinsen, s. § 50g Abs. 6 EStG) abgesehen. Es stellt sich aber die Frage, ob sich der Steuerpflichtige unmittelbar auf Art. 15 EU-ZinsBestA bzw. Art. 9 EU-IAA berufen kann, wenn ihm sein Entlastungsanspruch nach Art. 10 DBA-Schweiz gemäß § 50d Abs. 3 EStG versagt wird. Zwar enthält Art. 15 Abs. 1 EU-ZinsBestA/Art. 9 Abs. 1 EU-IAA einen Vorbehalt zugunsten nationaler Missbrauchsvermeidungsnormen wie § 50d Abs. 3 EStG. Es stellt sich aber zunächst die Frage, ob § 50d Abs. 3 EStG die Entlastung nach Art. 15 EU-ZinsBestA/Art. 9 EU-IAA überhaupt erfasst; andernfalls könnte der Steuerpflichtige die Entlastung nach dem EU-ZinsBestA/EU-IAA ohnehin ohne Berücksichtigung des § 50d Abs. 3 EStG geltend machen und der Missbrauchsvorbehalt ginge ins Leere. Die Anwendbarkeit des § 50d Abs. 3 EStG setzt voraus, dass unter den von § 50d Abs. 3 EStG erfassten "Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung" auch das EU-ZinsBestA/EU-IAA subsumiert werden kann. Das dürfte zunächst zweifelhaft sein, da das Gesetz mit dieser Formulierung üblicherweise nur Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einem anderen Vertragsstaat in Bezug nimmt, nicht aber Abkommen zwischen der EU und einem Drittstaat. Das FG Köln geht in seinem Urteil v. 17.3.2021 hingegen davon aus, dass im Wege einer teleologischen Auslegung auch das EU-ZinsBestA von § 50d Abs. 3 EStG erfasst sei: Hierfür spreche, dass das EU-ZinsBestA vom funktionalen Gehalt und von der Intention der Vertragsparteien im Wesentlichen einem typisch bilateralen DBA entspreche. Zudem ist der Wortlaut des § 50d Abs. 3 EStG hierfür offen: Das EU-ZinsBestA stellt ein "Abkommen" dar, das das Ziel der "Vermeidung der Doppelbesteuerung" verfolgt. Dem ist an sich (auch für das EU-IAA) zunächst zuzustimmen. Allerdings übersieht das FG Köln, dass das EU-ZinsBestA/EU-IAA als von der EU abgeschlossenes Abkommen i.S.d. Art. 216 AEUV Teil des Unionsrechts ist, die Mitgliedstaaten daher nach Art. 216 Abs. 2 AEUV an dieses Abkommen (gegenüber der EU) unionsrechtlich gebunden sind und deshalb das Abkommen auch an den Wirkungen des Unionsrechts (insbesondere dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts) auf das nationale Recht teilnimmt. Art. 15 EU-ZinsBestA/Art. 9 EU-IAA erfüllen unter entsprechender Geltung der Grundsätze zu EU-Richtlinien die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit (vgl. Rz. 5 f.), sodass sich der Steuerpflichtige auf diese Bestimmungen unmittelbar berufen und dies der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG vor nationalen Stellen entgegenhalten kann. Zudem können die Bestimmungen des EU-ZinsBestA/EU-IAA Gegenstand einer EuGH-Vorlage nach Art. 267 AEUV sein. Versagt § 50d Abs. 3 EStG den Anspruch nach Art. 15 EU-ZinsBestA/Art. 9 EU-IAA, stellt dies mithin grundsätzlich einen Verstoß gegen Unionsrecht dar, sodass § 50d Abs. 3 EStG insoweit unanwendbar wäre. Die Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG ist nur zulässig, wenn sie unter den in Art. 15 EU-ZinsBestA/Art. 9 EU-IAA enthaltenen Vorbehalt für die Anwendung von Missbrauchsbestimmungen fiele ("Unbeschadet der Anwendung der innerstaatlichen oder auf Abkommen beruhenden Vorschriften in der Schweiz und in den Mitgliedstaaten zur Verhütung von Betrug und Missbrauch [...]"). Dieser Missbrauchsvorbehalt ist im Lichte des EU-Primärrechts auszulegen und entspricht in etwa demjenigen in Art. 1 Abs. 2 MTR a.F., der Gegenstand der EuGH Rs. Eqiom und Enka, Deister Holding sowie GS war (s. dazu Rz. 41 ff., 96). Diese EuGH-Rechtsprechung zur restriktiven Auslegung des Missbrauchsvorbehalts am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann daher auf die Auslegung des Art. 15 EU-ZinsBestA/Art. 9 EU-IAA übertragen werden. Nur wenn diese unionsrechtlichen Grundsätze eingehalten werden, kann § 50d Abs. 3 EStG einen Entlastungsanspruch nach dem EU-ZinsBestA/EU-IAA versagen; werden sie nicht eingehalten, ist § 50d Abs. 3 EStG insoweit unanwendbar und die Entlastung ist ungeachtet des § 50d Abs. 3 EStG zu gewähren. Zudem ist § 50d Abs. 3 EStG insoweit am Maßstab des unionsrechtlichen Missbrauchsbegriffs unionsrechtlich auszulegen bzw. zu reduzieren. Im Übrigen bleibt der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots zu beachten (s. dazu ausf. Rz. 22 ff.), da die Vorteile aus dem EU-ZinsBestA/EU-IAA auch Vorteile aus dem Unionsrecht sein dürften. Zur Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit ausf. Rz. 107 ff.
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Freizügigkeitsabkommen. Zwischen der EU und ihren M...