Rz. 2
Allgemeines. Die Art und Weise, wie Unionsrecht auf die (deutsche) nationale Rechtsordnung bzw. einzelne nationale Rechtsnormen wie § 50d Abs. 3 EStG einwirkt, kann unterschiedlich ausfallen. Dabei gelten für alle Rechtsquellen des Unionsrechts (Primärrecht, Sekundärrecht) im Ausgangspunkt dieselben Einwirkungsgrundsätze. Das Unionsrecht kann dabei die konkrete Auslegung bzw. Anwendung (vgl. Rz. 4) oder aber schon die Anwendbarkeit (vgl. Rz. 5 f.) des § 50d Abs. 3 EStG beeinflussen.
Rz. 3
Unionsrecht als Prüfungsmaßstab für § 50d Abs. 3 EStG. Primäres und sekundäres Unionsrecht gilt nach Art. 23 GG in der deutschen Rechtsordnung unmittelbar, d.h. es bedarf keiner gesonderten nationalen Umsetzungsmaßnahme, damit Normen des Unionsrechts innerstaatlich zum geltenden Recht (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) gehören (sog. unmittelbare Geltung des Unionsrechts; davon strikt zu trennen ist hingegen die Frage einer unmittelbaren Anwendbarkeit der betreffenden Unionsrechtsnorm, s. dazu Rz. 5). Daraus ergibt sich, dass das Unionsrecht von allen staatlichen Stellen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben als objektiv geltendes Recht zu beachten ist (sog. Maßstabswirkung als objektive Wirkung des Unionsrechts). Als solches entfaltet es seine Maßstabswirkung insbesondere für Gerichte und Behörden als zwingend (von Amts wegen) zu beachtender Prüfungsmaßstab für die Anwendbarkeit, aber auch als Auslegungsmaßstab für die konkrete Auslegung und Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG.
Rz. 4
Kollisionsvermeidung: Unionsrechtskonforme Auslegung (Anwendung). Gilt das Unionsrecht in der nationalen Rechtsordnung (vgl. Rz. 3), so entfaltet sich deren Maßstabswirkung als objektive Wirkung insbesondere in der Weise, dass alle Träger öffentlicher Gewalt (insb. Gerichte, Behörden) das nationale Recht im Lichte des Unionsrechts, d.h. unionsrechtskonform auszulegen haben. Hierdurch sollen inhaltliche Kollisionen zwischen nationalem Recht und Unionsrecht bereits im Ausgangspunkt vermieden werden (Kollisionsvermeidungsfunktion der unionsrechtskonformen Auslegung). Das Unionsrecht ist insoweit Auslegungsmaßstab für das nationale Recht, hier für § 50d Abs. 3 EStG. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Unionsrecht auch unmittelbar anwendbar ist (vgl. Rz. 5), sodass auch indirekte inhaltliche Kollisionen über die unionsrechtskonforme Auslegung vermieden werden. Die unionsrechtskonforme Auslegung kann auch eine Auslegung oder Rechtsfortbildung zu Lasten des Steuerpflichtigen zur Folge haben. Dies gilt auch in Fällen von Richtlinien, da die belastende Folge der richtlinienkonformen Auslegung – anders als bei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen (s. Rz. 6) – ihre unmittelbare Grundlage im nationalen (Umsetzungs-)Rechts findet. Insoweit stellt die richtlinienkonforme Auslegung selbst eine (judikative) Umsetzung der Richtlinie durch die Gerichte dar. Ihre Grenze findet die Pflicht zur unionsrechts- und richtlinienkonformen Auslegung aber in den nationalen Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfindung, wozu neben der Auslegung auch eine richterliche Rechtsfortbildung (intra sowie – in engen Grenzen – praeter legem) zählt; eine Rechtsfindung contra legem ist auch unionsrechtlich nicht geboten, sondern sogar unzulässig (s. zu Einzelheiten ferner Rz. 17 ff.). Ist in diesem Fall die entgegenstehende (belastende) Unionsrechtsnorm nicht unmittelbar anwendbar, so bleibt es bei der (für den Steuerpflichtigen günstigeren) unionsrechtswidrigen Rechtslage des nationalen Rechts (vgl. Rz. 7); für diesen Fall bleiben die Instrumente des Vertragsverletzungsverfahrens und des unionsrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Ist die entgegenstehende Unionsrechtsnorm aber auch unmittelbar anwendbar (vgl. Rz. 5) (direkte Kollision), kommt es über die Kollisionsregel des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs zu einer Kollisionsauflösung durch Verdrängung der nationalen Norm (vgl. dazu Rz. 7, s. auch Rz. 19 f.).
Rz. 5
Unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts. Von der unmittelbaren Geltung einer Unionsrechtsnorm ist deren unmittelbare Anwendbarkeit als subjektive Wirkung des Unionsrechts zu unterscheiden. Denn nicht jede Unionsrechtsnorm hat auch die Fähigkeit, im Verhältnis zwischen Mitgliedstaat und Steuerpflichtigen unmittelbar angewendet zu werden und damit unmittelbarselbst (positive oder negative) Rechtswirkungen für den Steuerpflichtigen zu entfalten. Die unmittelbare Anwendbarkeit ist dabei eine Frage der Normstruktur und wird bei Unionsrechtsnormen unmittelbar durch das Unionsrecht selbst geregelt. Die (kumulativen) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit sind für jede Unionsrechtsnorm gesondert zu prüfen und sind für Primärrecht und Sekundärrecht einheitlich (s. aber zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen Rz. 6):
- Inhaltliche Unbedingtheit: Die Norm darf nicht unter einer Bedingung oder einem Vorbehalt stehen und (insb. bei Richtlinien) keine Wahl...