Rz. 17
Überblick. Ist der Tatbestand einer nationalen Norm wie § 50d Abs. 3 EStG nicht mit unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar, stellt sich die Frage, wie dieser Konflikt zu lösen, ggf. zu "heilen" ist. Entsprechend der dargestellten Einwirkungsmöglichkeiten des Unionsrechts auf das nationale Recht (vgl. Rz. 2 ff.) kann bzw. muss ein Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben zunächst im Wege unionsrechtskonformer Auslegung vermieden werden. Die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung erfüllt insoweit die Funktion einer Konfliktvermeidung. Kann in den (nach nationalem Recht zu ziehenden) Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung ein Konflikt nicht beseitig werden, so ist die Kollision über die Kollisionsregel des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts aufzulösen. Das setzt aber voraus, dass die entsprechende Norm des Unionsrechts, gegen die § 50d Abs. 3 EStG verstößt, unmittelbar anwendbar ist (s. näher Rz. 7). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die in der Rechtsprechung des BFH und des FG Köln zunehmend aufgegriffene Methode der "geltungserhaltenden Reduktion", womit eine gänzliche Nichtanwendung einer (belastenden Steuerrechts-)Norm wie § 50d Abs. 3 EStG vermieden werden soll (vgl. Rz. 18 ff.). Im Übrigen ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ein Anspruch auf Verzinsung unionswidrig erhobener bzw. nicht erstatteter Steuern, dessen Ausformung in der Rechtsprechung sich aber noch im Fluss befindet (vgl. Rz. 21 ff.).
Rz. 18
Unionsrechtskonforme teleologische Reduktion. Zunächst ist es denkbar, den Tatbestand des § 50d Abs. 3 EStG im Wege einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung – entgegen seinem Wortlaut – teleologisch zu reduzieren. Dies muss sich allerdings im Rahmen der nationalen (methodischen und verfassungsrechtlichen) Grenzen einer solchen (rechtsfortbildenden) teleologischen Reduktion bewegen (s. Rz. 4): Ihre Grenze findet die Pflicht zur unionsrechts- und richtlinienkonformen Auslegung in den nationalen Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfindung, wozu neben der Auslegung auch eine richterliche Rechtsfortbildung (intra sowie – in engen Grenzen – praeter legem) zählt; eine Rechtsfindung contra legem ist auch unionsrechtlich nicht geboten, sondern sogar unzulässig. Die äußersten Grenzen der richterlichen Rechtsfindung werden im gewaltengeteilten Verfassungsstaat funktionell gezogen: Eine Interpretation, die dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers und der daraus ableitbaren gesetzgeberischen Grundentscheidung zuwiderläuft, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein. Canaris hat für den Fall der richtlinienkonformen Auslegung ausführlich dargelegt, dass die Kombination von entgegenstehendem Wortlaut und Zweck einer richtlinienkonformen Auslegung entgegensteht und diese – außerhalb einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Unionsrechtsnorm – nicht zu einer faktischen Derogation (Nichtanwendung) eines Tatbestandsmerkmals führen kann. Werden diese Grenzen überschritten, ist das Auslegungsergebnis nicht mehr von "Gesetz und Recht" getragen, sodass sich die Anwendung des auf diese Weise richterlich geschöpften Rechts wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG als verfassungswidrig darstellt. Ist die entgegenstehende Unionsrechtsnorm nicht unmittelbar anwendbar, bleibt es bei dem unionsrechtswidrigen Zustand (vgl. Rz. 4). Ist die entgegenstehende Unionsrechtsnorm hingegen unmittelbar anwendbar, ist die Kollision über den Anwendungsvorrang zu lösen (vgl. Rz. 7, 19).
Rz. 19
"Teilunanwendbarkeit". Kommt die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung an ihre Grenzen und kann daher ein Konflikt mit unionsrechtlichen Vorgaben nicht vermieden werden, so kann die dann entstehende Kollision über den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang aufgelöst werden, wenn die entgegenstehende unionsrechtliche Norm unmittelbar anwendbar ist (vgl. Rz. 7). Insoweit kann der Anwendungsvorrang nicht nur in der Weise wirken, dass § 50d Abs. 3 EStG in Gänze unanwendbar ist. Aus Verhältnismäßigkeitsgründen und zur Schonung nationaler Souveränität kann er auch nur zu einer teilweisen Unanwendbarkeit ("Teilunanwendbarkeit") des § 50d Abs. 3 EStG durch (quantitative) Reduktion des Tatbestands oder der Rechtsfolge führen. Das dürfte das eigentliche Anliegen der sog. geltungserhaltenden (richtiger: anwendbarkeitserhaltenden) Reduktion sein (dazu näher Rz. 20). Das setzt aber voraus, dass der Tatbestand des § 50d Abs. 3 EStG um bestimmte Teile (z.B. einzelne Tatbestandsmerkmale) gekürzt werden kann und danach weiterhin ein sinnvoller und eigenständig anwendbarer Tatbestand verbleibt. So konnte etwa in § 50d Abs. 3 EStG a.F. dessen Satz 2 (Merkmalsübertragung) ersatzlos gestrichen werden, während der restliche Tatbestand sinnvoll weiterbestehen konnte. Zudem kann die Teilunanwendbarkeit mit einer unionsrechtskonformen Auslegung des übrigen Tatbestands kombiniert werden. Auf di...