Tz. 15

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Gründe, die das Gericht zur Aussetzung der Vollziehung berechtigen, entsprechen denen des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts können in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht bestehen. Ernstliche Zweifel i. S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen demnach vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (st. Rspr., z. B. BFH v. 02.01.2014, XI B 48/13, BFH/NV 2014, 733; im Einzelnen s. § 361 AO Rz. 29 ff.). Eine überwiegende Erfolgsaussicht der Klage oder des Rechtsmittels ist dabei nicht erforderlich (z. B. BFH v. 26.05.2010, V B 80/09, BFH/NV 2010, 2079). Bei der Entscheidung des BFH über einen Vollziehungsaussetzungsantrag kommt es auf den möglichen Erfolg der Revision unter Berücksichtigung des grundsätzlich auf Rechtsfragen beschränkten Überprüfungsrechts des BFH an (BFH v. 13.06.2007, X S 11/06, juris; BFH v. 22.04.2008, I S 3/08, juris; § 118 Abs. 2 FGO). Ernstliche Zweifel bestehen in diesem Fall dann, wenn ernstlich mit der Zulassung der Revision und der Aufhebung des Bescheids zu rechnen ist (BFH v. 25.10.2012, X S 29/12, BFH/NV 2013, 230). Jedoch ergeben sich aus der bloßen Zulassung der Revision durch das FG noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheides (BFH v. 24.05.2016, V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253).

 

Tz. 15a

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Aus den ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine entscheidungserhebliche Rechtsnorm folgen auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide, die auf dieser Norm beruhen (zuletzt z. B. BFH v. 21.07.2016, V B 37/16, BStBl II 2017, 28 mit zahlreichen Nachweisen). Wegen des grundsätzlichen Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes hält der BFH in st. Rspr. in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für erforderlich. Geboten ist danach eine Interessenabwägung zwischen der einer AdV entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine AdV sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen (z. B. BFH v. 21.07.2016, V B 37/16, BStBl II 2017, 28 m. w. N.; Stapperfend in Gräber, § 69 FGO Rz. 186 ff.). Diese Rspr. wird vom BVerfG gebilligt (z. B. BVerfG v. 03.04.1992, 2 BvR 283/92, HFR 1992, 726; krit. Seer, StuW 2001, 3, 17 f.; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz. 97; Drüen, FR 1999, 289; a. A. Klaus J. Wagner, Kruse-FS, 735, 751 ff.; Gosch in Gosch, § 69 FGO Rz. 132, 180, m. w. N.; Birkenfeld in HHSp, § 69 FGO Rz. 335). Überwiegende öffentliche Belange, die es rechtfertigen könnten, den Rechtsschutzanspruch des Antragstellers zurückzustellen, bestehen insbes. im öffentlichen Interesse an einer geordneten und verlässlichen Haushaltswirtschaft (BFH v. 31.01.2007, VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914; BFH v. 23.08.2007, VI B 42/07, BStBl II 2007, 799). Bislang hat der BFH zudem die Gewährung der AdV davon abhängig gemacht, ob das BVerfG in einem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG die entscheidungserhebliche Norm voraussichtlich (rückwirkend) für nichtig erklären werde (§ 82 Abs. 1 BVerfGG i. V. m. § 78 BVerfGG). Dem lag die Erwägung zugrunde, im AdV-Verfahren könne keine weitergehende Entscheidung getroffen werden, als vom BVerfG zu erwarten sei (z. B. BFH v. 05.04.2011, II B 153/10, BStBl II 2011, 942). Diese Rspr. wurde aufgegeben (BFH v. 21.11.2013, II B 46/13, BStBl II 2014, 263; BFH v. 18.12.2013, I B 85/13, BFH/NV 2014, 970). Jedenfalls führt allein die Anrufung des BVerfG durch ein FG im Wege der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) nicht dazu, dass im AdV-Verfahren von ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines auf die vorgelegte Norm gestützten Verwaltungsakts auszugehen ist (BFH v. 15.06.2016, II B 91/15, BStBl II 2016, 846).

 

Tz. 15b

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit können auch durch Zweifel an der Auslegung einer entscheidungserheblichen Norm des Europarechts i. S. von Art. 267 AEUV begründet werden (BFH v. 25.09.2008, XI S 4/08, BFH/NV 2009, 232), und zwar dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass der EuGH die ihm vorgelegte Rechtsfrage, auf die es im Streitfall ankommt, anders als der BFH beantwortet (BFH v. 14.02.2006, VIII B 107/04, BStBl II 2006, 523; BFH v. 19.12.2012, V S 30/12, BFH/NV 2013, 779). Das Erfordernis eines besonderen Aussetzungsinteresses wie bei verfassungsrecht...

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