Tz. 11

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der Anscheinsbeweis (Prima-facie-Beweis) ist weder eine Minderung des Beweismaßes noch eine eigenständige Beweisform, sondern eine Form des mittelbaren Beweises. Es handelt sich vielmehr um die Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Er beruht auf der Erfahrung, dass gewisse typische Sachverhalte typische Folgen auslösen und umgekehrt gewisse Folgen auf einen typischen Geschehensablauf hindeuten (st. Rspr. s. BFH v. 14.03.1989, VII R 75/85, BStBl II 1989, 534; BFH v. 28.09.2000, III R 43/97, BStBl II 2001, 211). Dieser typische Geschehensablauf, der voraussetzt, dass die Erfahrung auf einer gewissen Menge vorhergehender vergleichbarer Sachverhalte beruht (statistisches Element) muss geeignet sein, die volle Überzeugung des Gerichts von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der beweiserheblichen Tatsache zu begründen. Damit unterscheidet sich der Anscheinsbeweis vom bloßen Vorurteil, dem in der Regel eine gesicherte Erkenntnisgrundlage fehlt. Wegen der Vielzahl der möglichen Sachverhalte hat sich zum Anscheinsbeweis eine umfassende Judikatur entwickelt (Nachweise bei Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO, Rz. 45). Wichtige Beispiele sind die Annahme von Gewinnerzielungsabsicht bei typisch gewerblichen oder freiberuflichen Tätigkeiten oder die Annahme des Umfangs einer privaten Nutzung betrieblicher Pkw.

Der Anscheinsbeweis muss nicht durch einen Gegenbeweis widerlegt werden, es reicht aus, wenn er erschüttert wird. Hierzu muss der Prozessgegner substantiiert einen Sachverhalt darlegen, der die ernsthafte Möglichkeit eines vom typischen abweichenden Geschehensablaufs ergibt (BFH v. 04.06.2004, VI B 256/01, BFH/NV 2004, 1416; BFH v. 27.12.2010, XI B 7/10, BFH/NV 2011, 463; BFH v. 14.11.2013, VI R 25/13, BFH/NV 2014, 678 zur privaten Kfz-Nutzung). Wird dadurch die Überzeugung des Gerichts erschüttert, verliert der Anscheinsbeweis seine Wirkung; das Gericht muss hinsichtlich der nunmehr nicht erwiesenen Tatsache weitere Ermittlungen anstellen. Gelingt dem Prozessgegner der volle Gegenbeweis, d. h. gewinnt das Gericht die volle Überzeugung, dass die Voraussetzungen eines atypischen Geschehensablaufs erfüllt sind, ist der Anscheinsbeweis widerlegt (s. BFH v. 07.11.1990, I R 116/86, BStBl II 1991, 342; BFH v. 28.01.1992, VIII R 7/88, BStBl 1993, 84). Ob es einem Prozessbeteiligten gelungen ist, einen Anscheinsbeweis zu erschüttern bzw. zu entkräften, hat das Gericht im Rahmen seiner Tatsachenwürdigung zu klären, die grundsätzlich als nicht revisible Beweiswürdigung anzusehen ist (BFH v. 27.12.2010, XI B 7/10, BFH/NV 2011, 463; BFH v. 21.10.2009, VI B 74/08, BFH/NV 2010, 197).

Dem Anscheinsbeweis entspricht auch der gelegentliche Begriff der "tatsächlichen Vermutung", für den eine eigenständige dogmatische Grundlage fehlt (zur Kritik Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 48 ff.). Ebenso wie der Anscheinsbeweis beruht die tatsächliche Vermutung auf der Annahme typischer Geschehensabläufe, sodass eine sinnvolle Abgrenzung ohnehin nicht möglich ist.

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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