Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO stellt den Grundsatz auf, dass vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit gegeben werden soll, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Durch Verwendung des Wortes "soll" bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht zwingend ist, aber der Behörde grundsätzlich anempfohlen wird, ohne dass von vornherein die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs stets einen Rechtsverstoß darstellt. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (§ 5 AO), wobei die für die Ausübung des Ermessens maßgebenden Kriterien und die Grenzen des Ermessens eingehend dargestellt werden. Der Gesetzgeber macht deutlich, dass er die Gewährung des rechtlichen Gehörs für die Regel, das Absehen davon für die Ausnahme erachtet. Als Anwendungsfall einer diesbezüglich ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift ist § 12 Satz 2 BpO – s. Anh. 3 – anzusehen, wonach dem Stpfl. Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden soll, wenn bei der Auswertung eines Prüfungsberichts beabsichtigt ist, von den Feststellungen des Prüfungsdienstes zuungunsten des Stpfl. wesentlich abzuweichen.
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine Anhörung ist grundsätzlich nur erforderlich, wenn der beabsichtigte Verwaltungsakt in die Rechte des Beteiligten eingreift. Dies ist bei allen belastenden Verwaltungsakten der Fall. Dazu gehört auch die (Teil-)Ablehnung von begünstigenden Verwaltungsakten, der Widerruf oder die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte oder der Erlass des Verwaltungsaktes mit Nebenbestimmungen. Für Handlungsformen, die nicht Verwaltungsakt sind, z. B. schlichtes Verwaltungshandeln, gilt § 91 AO nicht.
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 91 Abs. 1 Satz 2 AO verstärkt die Regel für diejenigen Fälle, in denen die Finanzbehörde beabsichtigt, von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Stpfl. wesentlich abzuweichen. Eine Abweichung ist wesentlich i. S. dieser Vorschrift, wenn sie sich auf den Regelungsinhalt des Verwaltungsaktes, d. h. die durch ihn ausgelösten verbindlichen Wirkungen in der Weise auswirkt, dass der Betroffene hiergegen in einem Rechtsbehelfsverfahren eine Beschwer geltend machen könnte. § 91 Abs. 1 Satz 2 AO bezweckt, die Durchführung eines solchen Rechtsbehelfsverfahrens nach Möglichkeit zu ersparen und die Klärung des steuerlich relevanten Sachverhalts bereits im Steuerfestsetzungsverfahren abzuschließen. Bedingt die Abweichung eine Erhöhung der festzusetzenden Steuer, so kommt es darauf an, ob es sich um eine wesentliche Abweichung handelt. Damit ist vorrangig die wirtschaftliche Auswirkung gemeint; eine rechtliche Abweichung ohne relevante Auswirkung auf die Steuerfestsetzung löst grds. keine Anhörungspflicht aus. Der Beschränkung auf wesentliche Abweichungen lässt sich entnehmen, dass nicht jede Erhöhung der Steuer die Anhörungspflicht auslöst, sondern bei nur geringfügigen Abweichungen eine Anhörung unterbleiben kann (so auch AEAO zu § 91, Nr. 1 Satz 4; a. A. Seer in Tipke/Kruse, § 91 AO Rz. 5). Wann eine Änderung nicht wesentlich ist, lässt sich nicht allgemein nach einem festen Anteil oder Betrag, sondern nur einzelfallbezogen bestimmen. Eine Abweichung von der sich nach der Erklärung ergebenden Steuer in Höhe von 10 % dürfte in aller Regel wesentlich sein. Bei jährlich wiederkehrenden Dauersachverhalten kann eine Anhörung auch bei geringeren Abweichungen geboten sein. Bei nicht wesentlicher Abweichung reicht es aus, wenn diese im Steuerbescheid erläutert wird. Auch im Fall einer wesentlichen rechtlichen Abweichung kann ungeachtet der betragsmäßigen Auswirkungen eine Anhörung sachgerecht sein, um ggf. entbehrliche Rechtsbehelfsverfahren zu vermeiden.
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine bestimmte Form der Gewährung des rechtlichen Gehörs ist nicht vorgeschrieben. Sie bleibt grundsätzlich der Finanzbehörde überlassen. Insbesondere kann aus § 91 Abs. 1 AO kein allgemeines Recht auf Akteneinsicht hergeleitet werden. Auch aus den Informationsfreiheitsgesetzen der Länder ergibt sich kein eigenständiges Akteneinsichtsrecht im Besteuerungsverfahren; die gesetzliche Regelung der AO geht insoweit vor (BFH v. 23.02.2010, VII R 19/09, BStBl II 2010, 729; BFH v. 05.12.2016, VI B 37/16, BFH/NV 2017, 435). Die Finanzbehörde ist aber im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung aber nicht gehindert, den Beteiligten Akteneinsicht zu gewähren. Dabei ist jedoch dafür Sorge zu tragen, dass Rechte Dritter nicht betroffen werden, also das Steuergeheimnis (§ 30 AO, § 30a AO) gewahrt bleibt. Auch in den Akten befindliches Kontrollmaterial dürfte in der Regel gegen eine Akteneinsicht sprechen. Lehnt die Finanzbehörde einen Antrag auf Akteneinsicht ab, kann diese Entscheidung durch das FG nur im Rahmen des § 102 FGO auf etwaige Ermessensfehler überprüft werden (BFH v. 05.12.2016, VI B 37/16, BFH/NV 2017, 435). Im finanzgerichtlichen Verfahren steht den Beteiligten ...