Tz. 64
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung unter anderem über die Auslegung der europäischen Verträge, Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV (ex-Art. 234 Abs. 1 Buchst. a EGV). Hält ein nationales Gericht eine innerstaatliche Norm für europarechtswidrig, so eröffnet dies noch nicht den Weg zum EuGH, da dieser nur den EGV auszulegen hat. Denn der EuGH entscheidet nicht über streitige Sachverhaltsfragen, sondern ausschließlich über die Auslegung der Norm des europäischen Gemeinschaftsrechts (Brandt, AO-StB 2002, 281). Das Gericht hat daher sein Vorabentscheidungsersuchen so zu formulieren, dass dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV vorgelegt wird, ob der EUV oder der AEUV dahingehend auszulegen ist, dass die entscheidungserhebliche innerstaatliche Norm mit den Regelungen des EUV oder des AEUV (z. B. mit den Grundfreiheiten) nicht vereinbar ist.
Tz. 65
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Jedes FG kann bei Zweifeln über die Auslegung des EUV/AEUV im vorgenannten Sinn das finanzgerichtliche Verfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV aussetzen und die Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Eine Verpflichtung hierzu besteht nicht. Etwas anderes gilt für den BFH, da die nationalen letztinstanzlichen Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des EuGH verpflichtet sind. Die Vorlagepflicht erstreckt sich indessen nicht auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (§§ 69 Abs. 3, 114 FGO). In dem Vorlagebeschluss muss das vorlegende Gericht darlegen, dass die Vorlagefrage im konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, ansonsten ist die Vorabentscheidungsersuchen unzulässig (Brandt, AO-StB 2002, 281 m. w. N.). Insoweit besteht eine gewisse Parallelität zum Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (s. Rz. 61).
Tz. 65a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Unterlässt ein Gericht die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV, kann dies zu einer Verletzung des sich aus Art 101 Abs 1 Satz 2 GG ergebenden Rechts auf den gesetzlichen Richter führen. Eine solche Verletzung liegt in diesem Fall jedoch nur dann vor, wenn zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rspr des EuGH nicht vorliegt oder hat der EuGH die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet hat oder eine Fortentwicklung der Rspr des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit erscheint und das letztinstanzliche Hauptsachengericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (z. B. BVerfG v. 14.05.2007, 1 BvR 2036/05, BVerfGK 11, 189; BVerfG v. 19.12.2017, 2 BvR 424/17, NJW 2018, 686; ferner z. B. auch Bartone, AO-StB 2008, 224, 227).
Tz. 66
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Einen unmittelbaren steuerrechtlichen Individualrechtsschutz gegen innerstaatliche Rechtsakte kennt das Europarecht grds. nicht. Denn die im AEUV vorgesehenen Maßnahmen des Individualrechtsschutzes (Untätigkeitsklage nach Art. 263 AEUV; Nichtigkeitsklage nach Art. 265 AEUV) richten sich ausnahmslos gegen die EU-Organe und – im Fall der Nichtigkeitsklage – die EZB (Art. 263 Abs. 1, 265 Abs. 1 AEUV). Dem Stpfl. als "nicht-privilegiertem Kläger" (Art. 263 Abs. 4, 265 Abs. 4 AEUV) steht allenfalls der Umweg über eine Beschwerde an die EU-Kommission wegen einer Vertragsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung mit dem Ziel, dass die Kommission ihrerseits gegen die Bundesrepublik nach Art. 263 Abs. 1 AEUV vorgeht und eine Nichtigkeitsklage vor dem EuGH erhebt. Im Falle ihrer Untätigkeit kann der Stpfl. dann seinerseits gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV eine Nichtigkeitsklage gegen die Kommission erheben (dazu Brandt, AO-StB, 2002, 236). Im Übrigen kann er Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erheben, wenn der BFH gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV verstößt, da auch die Richter des EuGH gesetzliche Richter i. S. von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sind (s. Rz. 61c, 65a).