Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Vorschrift befasst sich mit der Duldung der Zwangsvollstreckung in bewegliches bzw. unbewegliches Vermögen. Die hiernach bestehende Duldungspflicht wird durch die in § 191 Abs. 1 AO vorgesehenen Duldungsbescheide realisiert. Zwar betrifft § 77 AO nur zwei besondere Fälle der Duldungspflicht, doch bedeutet dies keine abschließende Regelung. Die Duldung der Zwangsvollstreckung kommt z. B. auch in den Fällen der §§ 263 bis 265 AO und § 323 AO in Frage. Auch aus dem AnfechtungsG kann sich eine solche Duldungspflicht ergeben (s. § 191 Abs. 1 Satz 2 AO). So kann durch Duldungsbescheid als eine besondere Form der Rückgewähr nach § 11 Abs. 1 AnfG sogar Wertersatz gefordert werden (BFH v. 31.07.1984, VII R 151/83, BStBl II 1985, 31 zu § 7 Abs. 1 AnfG a. F.).
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach § 77 Abs. 1 AO hat derjenige, der kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Steuer aus Mitteln zu entrichten, die seiner Verwaltung unterliegen, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden. Da diese Personen somit primär zur Zahlung der Steuer aus den verwalteten Mitteln verpflichtet sind, greift die Duldungspflicht nur subsidiär ein (sog. unechte Duldungspflicht). Bei der echten Duldungspflicht ist der Entrichtungspflichtige nicht zugleich Duldungsschuldner.
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Von der Vorschrift betroffen sind vor allem die in den §§ 34 und 35 AO genannten Personen, wenn und soweit sie eigenen Gewahrsam über die von ihnen verwalteten Mittel innehaben (z. B. der dem Geschäftsführer auch zur Privatnutzung überlassene Firmenwagen). Dagegen braucht § 77 Abs. 1 AO nicht herangezogen zu werden, wenn diese Personen den Gewahrsam für den Vertretenen, also als dessen Besitzdiener (s. § 855 BGB) oder als dessen Organ, ausüben. Im letzteren Fall ist die Vollstreckung in das Vermögen des Vertretenen (Steuerschuldners = Vollstreckungsschuldner) ohne Weiteres möglich.
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach § 77 Abs. 2 AO hat der Eigentümer von Grundbesitz wegen einer Steuer, die auf diesem kraft gesetzlicher Vorschrift als öffentliche Last ruht, die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden. Als öffentliche Lasten kommen hier insbes. die Grundsteuer (s. § 12 GrStG), Anliegerbeiträge, Benutzungsgebühren u. Ä. in Betracht. Zur Vereinbarkeit der Vorschrift mit Art. 5 EuInsVO vgl. EuGH v. 26.10.2016, C-195/15, ZIP 2017, 2175.
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine gesetzliche Fiktion schafft § 77 Abs. 2 Satz 2 AO: Zugunsten der Finanzbehörde gilt unwiderlegbar derjenige als Eigentümer, der als solcher im Grundbuch eingetragen ist. Entsprechend § 1148 BGB bleibt jedoch das Recht des nicht eingetragenen Eigentümers, die ihm gegen die öffentliche Last zustehenden Einwendungen geltend zu machen, unberührt. Wird während des Zwangsvollstreckungsverfahrens gegen den Bucheigentümer im Wege der Berichtigung des Grundbuchs der wahre Eigentümer eingetragen, ist die Vollstreckung auf diesen umzustellen.
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Duldungspflicht ist akzessorisch. Sie setzt das Bestehen einer Steuerschuld voraus, d. h. diese muss entstanden und darf nicht wieder untergegangen sein (BVerwG v. 13.02.1987, 8 C 25.85, BStBl II 1987, 475). Die Geltendmachung dieser Pflicht durch Duldungsbescheid (s. § 191 Abs. 1 AO) setzt voraus, dass der zugrunde liegende Steueranspruch festgesetzt, fällig und vollstreckbar ist (s. § 254 Abs. 1 AO). Der Erlass eines Duldungsbescheides ist nicht allein deswegen ermessenswidrig, weil die Behörde in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen des vormaligen Eigentümers nicht versucht hat, ein Absonderungsrecht wegen des Grundstücks geltend zu machen (VGH Kassel v. 22.01.2010, 5 B 3254/09, NJW 2010, 1987). Duldungsansprüche unterliegen nicht der Festsetzungsfrist (gl. A. Kruse in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 77; BVerwG v. 13.02.1987, 8 C 25.85, BStBl II 1987, 475). Die zeitliche Grenze ergibt sich aus der Akzessorietät des Duldungsanspruchs, also aus der Zahlungsverjährung der Erstschuld.
Tz. 7
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der durch Duldungsbescheid in Anspruch genommene kann Einwendungen gegen den Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, die der Steuerschuldner bereits verloren hat, nicht mehr vorbringen (BFH v. 01.03.1988, VII R 109/86, BStBl II 1988, 408). Da die Duldung eine Maßnahme des Vollstreckungsrechts ist, ist das eine Folge aus § 256 AO. Nach Auffassung des BFH kann ein Duldungsbescheid auch ergehen, wenn die zugrunde liegende Steuerforderung von der Vollziehung ausgesetzt ist (BFH v. 09.02.1988, VII R 62/86, BFH/NV 1988, 752).
Tz. 8
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Mindestens eine Woche vor Beginn der Vollstreckung muss der Duldungspflichtige aufgefordert werden, die Vollstreckung zu dulden (s. § 254 Abs. 1 Satz 1 AO; Leistungs- bzw. Duldungsgebot). Da der Duldungspflichtige ein Interesse haben kann, die Vollstreckung durch Zahlung (s. § 48 Abs. 1 AO) abzuwenden, ist ihm mitzuteilen, durch die Zahlung welchen Betrags dies geschehen ...