A. Allgemeines
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Einen allgemeinen und umfassenden Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs begründet Art. 103 Abs. 1 GG nur für das Verfahren vor Gerichten. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die grundsätzliche Gewährung des rechtlichen Gehörs auch im Verwaltungsverfahren als Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit notwendig ist. Die Vorschrift fordert die Anhörung der Beteiligten am Verwaltungsverfahren im Regelfall und verdeutlicht die ausdrückliche Zulassung von Ausnahmen durch Beispielsfälle. Damit wird der Flexibilität der Verwaltung in ausreichendem Maße Rechnung getragen, ohne die berechtigten Interessen der Beteiligten mehr als unbedingt erforderlich zu beschneiden.
B. Bedeutung und Anwendungsbereich der Vorschrift
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Inhaltlich stellt sich der Anspruch auf rechtliches Gehör in der Verpflichtung der Behörde dar, den Beteiligten jederzeit hinreichende Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Das gilt vor allem für neu auftauchende – tatsächliche oder rechtliche – Gesichtspunkte. Dies gilt insbes., wenn die Behörde beabsichtigt, Ergebnisse ihrer Ermittlungen gegen den Beteiligten zu verwerten. Die Verpflichtung zur Anhörung besteht grundsätzlich vor dem Erlass eines Verwaltungsaktes, soweit nicht eine der in § 91 Abs. 2 oder 3 AO genannten Ausnahmen vorliegt. Die Regelung soll nicht nur die Beteiligungsrechte der Betroffenen wahren, sondern auch die Sachaufklärung erleichtern, sie beinhaltet für die Finanzbehörden aber keine Verpflichtung, mit den Beteiligten Rechtsgespräche zu führen. Gleichwohl kann es sich empfehlen, auch rechtliche Aspekte anzusprechen, um auf diese Weise Rechtsbehelfsverfahren zu vermeiden. Einen Anspruch auf eine rechtliche Diskussion hat der Beteiligte indes nicht.
C. Tatbestandliche Voraussetzungen
I. Grundsatz: Recht auf Anhörung
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO stellt den Grundsatz auf, dass vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit gegeben werden soll, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Durch Verwendung des Wortes "soll" bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht zwingend ist, aber der Behörde grundsätzlich anempfohlen wird, ohne dass von vornherein die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs stets einen Rechtsverstoß darstellt. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (§ 5 AO), wobei die für die Ausübung des Ermessens maßgebenden Kriterien und die Grenzen des Ermessens eingehend dargestellt werden. Der Gesetzgeber macht deutlich, dass er die Gewährung des rechtlichen Gehörs für die Regel, das Absehen davon für die Ausnahme erachtet. Als Anwendungsfall einer diesbezüglich ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift ist § 12 Satz 2 BpO – s. Anh. 3 – anzusehen, wonach dem Stpfl. Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden soll, wenn bei der Auswertung eines Prüfungsberichts beabsichtigt ist, von den Feststellungen des Prüfungsdienstes zuungunsten des Stpfl. wesentlich abzuweichen.
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine Anhörung ist grundsätzlich nur erforderlich, wenn der beabsichtigte Verwaltungsakt in die Rechte des Beteiligten eingreift. Dies ist bei allen belastenden Verwaltungsakten der Fall. Dazu gehört auch die (Teil-)Ablehnung von begünstigenden Verwaltungsakten, der Widerruf oder die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte oder der Erlass des Verwaltungsaktes mit Nebenbestimmungen. Für Handlungsformen, die nicht Verwaltungsakt sind, z. B. schlichtes Verwaltungshandeln, gilt § 91 AO nicht.
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 91 Abs. 1 Satz 2 AO verstärkt die Regel für diejenigen Fälle, in denen die Finanzbehörde beabsichtigt, von dem in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt zuungunsten des Stpfl. wesentlich abzuweichen. Eine Abweichung ist wesentlich i. S. dieser Vorschrift, wenn sie sich auf den Regelungsinhalt des Verwaltungsaktes, d. h. die durch ihn ausgelösten verbindlichen Wirkungen in der Weise auswirkt, dass der Betroffene hiergegen in einem Rechtsbehelfsverfahren eine Beschwer geltend machen könnte. § 91 Abs. 1 Satz 2 AO bezweckt, die Durchführung eines solchen Rechtsbehelfsverfahrens nach Möglichkeit zu ersparen und die Klärung des steuerlich relevanten Sachverhalts bereits im Steuerfestsetzungsverfahren abzuschließen. Bedingt die Abweichung eine Erhöhung der festzusetzenden Steuer, so kommt es darauf an, ob es sich um eine wesentliche Abweichung handelt. Damit ist vorrangig die wirtschaftliche Auswirkung gemeint; eine rechtliche Abweichung ohne relevante Auswirkung auf die Steuerfestsetzung löst grds. keine Anhörungspflicht aus. Der Beschränkung auf wesentliche Abweichungen lässt sich entnehmen, dass nicht jede Erhöhung der Steuer die Anhörungspflicht auslöst, sondern bei nur geringfügigen Abweichungen eine Anhörung unterbleiben kann (so auch AEAO zu § 91, Nr. 1 Satz 4; a. A. Seer in Tipke/Kruse, § 91 AO Rz. 5). Wann eine Änderung nicht wesentlich ist, lässt sich nicht allgemein nach einem festen Anteil oder Betrag, sondern nur einzelfallbezogen bestimmen. Eine ...