Dr. Christoph Regierer, René Udwari
Rz. 152
Eine besondere Gestaltungsvariante der Stiftung bürgerlichen Rechts ist der Einsatz der Stiftung mit dem Zweck der langfristigen Bindung von Vermögen und der Familie des Stifters zur Versorgung der Familienmitglieder. Die Familienstiftung ist vom BGB nicht als eigenständiger Stiftungstypus vorgesehen. Sowohl das Steuerrecht als auch die Stiftungsgesetze vieler Länder (§ 10 Abs. 1 Satz 1 StiftG Bln; § 2 Abs. 2 BbgStiftG; § 17 Satz 1 BremStiftG; § 21 HessStiftG; § 19 StiftG SchlH) sehen die Familienstiftung als eigenständigen Typus vor, auch wenn die Definitionen nicht einheitlich sind (vgl. Richter in Richter StiftungsR-HdB § 11 Rn. 51). Verallgemeinernd mag der Begriff Stiftungen umschreiben, deren Zweck ausschließlich oder überwiegend dem Interesse einer bestimmten oder mehrerer bestimmter Familien gewidmet ist (vgl. Staudinger/Hüttemann/Rawert, BGB, Vor §§ 80 ff. Rn. 258; Richter in Richter StiftungsR-HdB § 11 Rn. 3).
Rz. 153
Für das Steuerrecht umschreiben die §§ 1 Abs. 1 Nr. 4 HS 1 und 15 Abs. 2 Satz 1 ErbStG die Familienstiftung als Stiftung, die wesentlich im Interesse einer Familie oder bestimmter Familien im Inland errichtet ist. Wann das Interesse "wesentlich" ist, will die Rechtsprechung qualitativ ermitteln (BFH vom 10.12.1997 – II R 25-94, BStBl II 1998, 114 (116); BFH vom 18.11.2009 – II R 46/07, BFH/NV 2010, 898 Rn. 14 ff.), während die FinVerw zunächst quantitativ vorgeht (R E 1.2 Abs. 2 ErbStR). Entscheidend sind nach dem BFH in qualitativer Hinsicht, welchen Zweck der Stifter bei der Errichtung der Stiftung verfolgte, welche Satzungszwecke die Stiftung verfolgt, die Art und Weise der tatsächlichen Geschäftsführung sowie die Zusammensetzung des Stiftungsvorstands. Das Interesse muss nicht unmittelbar an die Familie gebunden sein, sodass auch die Förderung eines Familienunternehmens als Stiftungszweck ebenfalls noch zu einer Familienstiftung führt, auch wenn die Familienmitglieder von der Förderung durch die Stiftung nur mittelbar profitieren (BFH vom 18.11.2009 – II R 46/07, BFH/NV 2010, 898). Wann in quantitativer Hinsicht ein "überwiegendes" Interesse vorliegt, mag auch für das Zivilrecht die Definition der Familienstiftung in § 15 Abs. 2 AStG indizieren: Danach sind Familienstiftungen solche Stiftungen, bei denen der Stifter, seine Angehörigen und deren Abkömmlinge hinsichtlich mehr als der Hälfte der Erträge bezugsberechtigt oder anfallsberechtigt sind. Die Literatur diskutiert jedoch auch höhere oder niedrigere Schwellen.
Der zivilrechtliche Begriff der Familie sowie der Angehörigenbegriff des § 15 AO sprechen für ein weites Verständnis der "Familie" auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG (vgl. Hannes/Holtz in Meincke/Hannes/Holtz, ErbStG, 18. Aufl. 2021, § 1 Rn. 17; engere Auslegung, wohl Mindermeinung: Flämig, DStZ 86, 11, 14), der auch Adoptivkinder umfasst (vgl. Nr. 7 AEAO zu § 15 AO).
Rz. 154
Die erbschaftsteuerliche Begriffsbestimmung fußt stets auf § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG. Hinsichtlich dieser Begriffsbestimmung ist mittlerweile geklärt, dass "Stiftung" in diesem Sinne nur die rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts (§§ 80 ff. BGB) meint, nicht aber unselbstständige Stiftungen oder andere Erscheinungsformen (BFH vom 25.01.2017 – II R 26/16, BStBl II 2018, 199).
Rz. 155
Ohne höchstrichterliche Klärung ist bislang auch die strittige Frage der Auswirkung einer Thesaurierung von Erträgen des Stiftungsvermögens auf die Anwendbarkeit von § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG. Dagegen spricht jedoch, dass für die Qualifikation als Familienstiftung allein entscheidend ist, ob die Destinatäre hinsichtlich der tatsächlich ausgeschütteten Beträge auch nach der Satzung in dem genannten Umfang bezugsberechtigt sind, sodass auch thesaurierte Erträge als für die Destinatäre thesauriert gelten können – zumindest, wenn alsbald eine Ausschüttung erfolgt. Hat jedoch die Stiftung über Jahrzehnte hinweg einen Großteil ihres Vermögens thesauriert, so wird i. R. einer Gesamtbetrachtung der Grund der Thesaurierung zu klären sein. Erfolgte diese im Beweggrund, der Familie des Stifters in bestimmten Situationen, z. B. im Ruhestand einzelner Familienmitglieder, das Vermögen wieder zur Verfügung zu stellen, so ist die Thesaurierung gerade nicht im eigenen Interesse der Stiftung, sondern zugunsten der Familie erfolgt. Aufgrund entsprechender Indizwirkung sollte in derartigen Fällen i. R.d. tatsächlichen Geschäftsführung stets darauf geachtet werden, dass jedenfalls nicht eine mehrjährige (teilweise) Thesaurierung und eine überwiegende Ausschüttung der (teilweise) ausgekehrten Erträge an die begünstigte Familie zutreffen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass trotz einer nur geringen Auskehr der Erträge eine Familienstiftung i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG angenommen werden könnte.