Rz. 850
Das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen hat eine über 100 Jahre alte Tradition und gehört zu den ältesten Steuerinstituten des Einkommensteuerrechts. Entwickelt wurde es im Rahmen der Leibgedinge bei Hofübergaben. So erfasste bereits § 15 Abs. 1 PreußEStG 1891 neben Leibrenten auch Altenteile als wiederkehrende Bezüge und ließ – korrespondierend – in § 9 Abs. 1 Nr. 3 PreußEStG beim Übernehmer den vollen (Sonderausgaben-)Abzug zu. Damit war klar, dass Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen unentgeltliche Vorgänge i. S. d. EStG darstellen. An diesen Grundsätzen hielten sowohl die REStG 1920 (RGBl 1920, 359), 1925 (RGBl 1925, 189), 1934 (RGBl I 1934, 1005) sowie das EStG 1955 i. d. F. des StNOG vom 16.12.1954 fest.
Rz. 851
Bereits das Preußische OVG hat daher Bezüge aus Altenteilen nicht zu den Einkünften aus Grundvermögen oder Handel und Gewerbe gerechnet, sondern ist von einer unentgeltlichen Vermögensübertragung auf die nächste Generation ausgegangen (OVG-Entscheidung vom 17.10.1895, OVGSt 4, 165; Entscheidung vom 13.06.1896, OVGSt 5, 157). Der RFH (Urteil vom 25.06.1930, StuW 1930, Teil II Nr. 1000; vom 08.10.1931, RStBl 1931, 946; vom 01.02.1933, RStBl 1933, 583; vom 08.08.1934, StuW 1934, Teil II Nr. 654) hat sich dieser Sichtweise angeschlossen und die Rechtsprechung auf Übertragungsgegenstände, die auch andere Einkunftsarten als Land- und Forstwirtschaft berühren – gewerbliche Einkünfte, Vermietung und Verpachtung –, ausgedehnt. Auch der BFH ist in ständiger Rechtsprechung (Urteil vom 30.10.1984, BStBl II 1985, 610; Beschluss vom 05.07.1990, BStBl II 1990, 847; vom 12.05.2003, BStBl II 2004, 95) dieser Beurteilung gefolgt und hat Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen als unentgeltlich und damit dem Privatbereich zugeordnet angesehen. Diese Rechtsprechung hat er auf die Übertragung von Geldvermögen, Wertpapieren, typisch stille Beteiligungen und vom Übernehmer selbst genutzten Wohnungseigentums ausgedehnt und damit auch derartiges Vermögen – zumindest im Grundsatz – als taugliche Objekte einer Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen angesehen.
Rz. 852
Leitgedanke der Rechtsprechung zur Unentgeltlichkeit von Vermögensübertragungen gegen Versorgungsleistungen ist, dass der Übergeber sich – ähnlich einem Vorbehaltsnießbraucher (s. Rn. 816 ff.) – bei der Übertragung Erträge seines Vermögens vorbehält, die allerdings erst noch vom Übernehmer zu erwirtschaften sind. Damit wird gedanklich das Vermögen ohne die vorbehaltenen Erträge übertragen, so dass diese keine Gegenleistung für die Übertragung darstellen können (BFH GrS vom 05.07.1990, BStBl II 1990, 847 unter C.II.1.c); vom 12.05.2003, BStBl II 2004, 95 unter C.II.2.c)). Das BVerfG hat mit Beschluss vom 17.12.1992 (DStR 1993, 315; s. auch BFH vom 27.08.1997, BStBl II 1997, 813) die Rechtsprechung des BFH als verfassungsgemäß beurteilt und in der Annahme der einkommensteuerlichen Unentgeltlichkeit der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen keinen Verstoß gegen Art. 3 GG gesehen.
Rz. 853
Der ausdehnenden Rechtsprechung des BFH hat der Gesetzgeber mit dem JStG 2008 partiell einen Riegel vorgeschoben (s. Seltenreich/Kunze, ErbStB 2007, 338; Wälzholz, DStR 2008, 273; Spiegelberger, DStR 2007, 1277; ders., DB 2008, 1063; Schultes-Schnitzlein/Keese, NWB 2009, 64). Damit soll das Rechtsinstitut der Vermögensübergabe gegen Versorgungsleistungen auf seinen "historischen Kern" zurückgeführt werden. Vermögensübergaben gegen Versorgungsleistungen sind daher ab 01.01.2008 nur noch beim Übernehmer als Sonderausgaben abzugsfähig, wenn es sich um die Übertragung eines Betriebs, Teilbetriebs oder eines Mitunternehmeranteils an einer Personengesellschaft, die eine Tätigkeit i. S. d. §§ 13 Abs. 1, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 18 Abs. 1 EStG ausübt, handelt oder GmbH-Anteile i. H. v. mindestens 50 % übertragen werden, der Übergeber vor der Übertragung als Geschäftsführer tätig war und die Geschäftsführertätigkeit mit der Übertragung aufgibt (BFH vom 20.03.2017, BStBl II 2017, 985) sowie der Übernehmer nach der Übertragung diese Tätigkeit übernimmt. Eine zu § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG entsprechende Regelung wurde in § 22 Nr. 1b EStG (heute § 22 Nr. 1a EStG) eingefügt, die beim Übergeber die Versorgungsleistungen als sonstige Einkünfte erfasst. Für Altfälle (Übertragung vor dem 01.01.2008) bleibt es im Grundsatz bei der bisherigen Regelung (s. § 52 Abs. 23e EStG). Mit Gesetz vom 22.12.2014 (BGBl I 2014, 2417) hat der Gesetzgeber die Regelung von § 10 Abs. 1 Nr. 1a EStG inhaltsgleich nach § 10 Abs. 1a Nr. 2 EStG umgegliedert.
Rz. 854–855
vorläufig frei