Rz. 70
Dem Nachvermächtnis und somit der Nacherbfolge gleichgestellt ist des Weiteren ein beim Tod des Beschwerten fälliges Vermächtnis (betagtes Vermächtnis), also Fälle, in denen der Erblasser ein Vermächtnis anordnet, das allerdings erst mit dem Tod des (mit dem Vermächtnis beschwerten) Erben fällig wird. Im Unterschied zum Nachvermächtnis handelt es sich hier nicht um zwei Vermächtnisnehmer in zeitlicher Reihenfolge, sondern um ein (normales) Vermächtnis, mit der Besonderheit einer bis zum Tod des Beschwerten hinausgeschobenen Fälligkeit. Durch die Gleichbehandlung eines solchen Vermächtnisses mit der Nacherbfolge wird erreicht, dass der Vermächtniserwerb als vom Beschwerten gilt (§ 6 Abs. 2 Satz 1 ErbStG analog), wobei allerdings die Antragsmöglichkeit nach § 6 Abs. 2 Satz 2 ErbStG besteht (s. R E 6 Satz 6 ErbStR; bestätigt durch BFH vom 31.08.2021, BFH/NV 2022, 287) und der Beschwerte die Vermächtnislast nicht nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG abziehen kann. Allerdings gesteht die Finanzverwaltung beim Tod des Beschwerten den Abzug einer Erblasserschuld gem. § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG zu (s. R E 6 Satz 4 ErbStR). Bei einem betagten Vermächtnis hat der Vermächtnisnehmer den Erwerb daher als Erwerb vom beschwerten Erben oder wahlweise als vom (ursprünglichen) Erblasser zu versteuern.
Rz. 71
In der Praxis kommen derartige Gestaltungen insb. bei einem mit einer Jastrow’schen Klausel versehenen Berliner Testament vor (s. auch Engel in Wilms, § 6 Rn. 33; Löcherbach in V/S/W, § 6 Rn. 40). Ist dort vorgesehen, dass Kinder, die nach dem Tod des erstversterbenden Ehegatten den Pflichtteil nicht geltend machen, ein Vermächtnis i. H. d. Pflichtteils erhalten, das allerdings erst mit dem Tod des letztversterbenden Ehegatten fällig wird, so ist das Vermächtnis von den Kindern (Schlusserben) als Erwerb vom letztversterbenden Ehegatten zu versteuern, was infolge des gleichzeitigen Erbanfalls zu einer steuerlich nachteiligen Vermögenskumulation führt. Die Attraktivität der Jastrow’schen Klausel sowie die Intention der Erblasser wird daher durch § 6 Abs. 4 ErbStG zumindest relativiert. Ausweichgestaltungen, die allerdings noch nicht endgültig gerichtlich überprüft sind, bestehen darin, das Vermächtnis nicht mit dem Tod des letztversterbenden Ehegatten, sondern erst kurze Zeit später fällig werden zu lassen. Dann ist § 6 Abs. 4 ErbStG vom Wortlaut nicht einschlägig, da dieser ausdrücklich nur auf ein beim Tod des Beschwerten fälliges Vermächtnis abstellt. Der Schlusserbe erhält das Vermächtnis – auch steuerlich – vom vorverstorbenen Ehegatten zugewandt. Ob diese Gestaltung allerdings § 42 AO standhält, bleibt abzuwarten (s. Daragan, DStR 1999, 393 einerseits und Steiner, ErbStB 2004, 164 ff. sowie Meyer, ZEV 1998, 50, 58 andererseits).
Rz. 72
Als weitere Gestaltungsmöglichkeit wurde früher empfohlen statt Vermächtnissen beim Tod des letztversterbenden Ehegatten fällige Auflagen im Testament vorzunehmen. Zur Durchsetzbarkeit der Auflagen bestand sodann die Möglichkeit, die Kinder als Testamentsvollstrecker einzusetzen (zu diesen Gestaltungen im Einzelnen s. Daragan, DStR 1999, 393 sowie Heeg, DStR 2007, 89 ff.). Mit dem seit 01.01.2009 geltenden Erbschaftsteuerrecht wurde diese Gestaltungsmöglichkeit beseitigt, indem beim Tod des Beschwerten fällige Auflagen in den Gesetzestext des § 6 Abs. 4 ErbStG aufgenommen wurden. Beim Tod des Beschwerten fällige Auflagen werden daher wie Nachverhältnisse behandelt.
Ist die Fälligkeit des Vermächtnisses nicht vom Tod des Beschwerten, sondern von einem anderen Umstand abhängig, so liegt ein aufschiebend bedingtes Vermächtnis vor, das nicht von § 6 Abs. 4 ErbStG erfasst ist. § 6 Abs. 3 ErbStG ist daher nicht anzuwenden. Der Erwerb richtet sich nach dem Verhältnis zum Erblasser. Beim Beschwerten ist die ursprüngliche Veranlagung zu korrigieren (§ 6 Abs. 2, § 5 Abs. 2 BewG), zu viel gezahlte Steuer ist zu erstatten.