Dipl.-Finanzwirt Jörg Ramb
Rz. 40
Anzuwenden sind vorrangig die von den Gutachterausschüssen aus Kaufpreissammlungen abgeleiteten örtlichen Liegenschaftszinssätze (§ 188 Abs. 2 Satz 1 BewG).
Mit Urteil vom 18.09.2019 (II R 13/16, BStBl II 2020, 760) hatte der BFH entschieden, dass durch den Gutachterausschuss ermittelte örtliche Liegenschaftszinssätze für die Grundbesitzbewertung für Zwecke der Erbschaftsteuer geeignet sind, wenn der Gutachterausschuss die an ihn gerichteten Vorgaben des BauGB sowie die darauf beruhenden Verordnungen eingehalten und die Liegenschaftszinssätze für einen Zeitraum berechnet hat, der den Bewertungsstichtag umfasst. Auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung oder Veröffentlichung der Liegenschaftszinssätze durch den Gutachterausschuss kommt es für ihre zeitliche Anwendung nicht an.
Die Obersten FinBeh der Länder wenden das BFH-Urteil über den entschiedenen Einzelfall hinaus jedoch nicht an (Schreiben vom 23.09.2020, BStBl I 2020, 1210): "In der Bewertungspraxis stellt sich das Problem, dass die Daten der Gutachterausschüsse aufgrund des Umstandes, dass sie erst über mehrere Jahre erhoben und gesammelt, dann periodisch ausgewertet und schließlich veröffentlicht werden müssen, und demzufolge stets eine gewisse Zeit "nachhängen". Bis zur Ermittlung und Veröffentlichung von Liegenschaftszinssätzen, bei denen der Bewertungsstichtag innerhalb des Zeitraums der ausgewerteten Kauffälle des Gutachterausschusses liegt, können daher unter Umständen mehrere Jahre liegen. Des Weiteren können sich unterschiedliche Liegenschaftszinssätze ergeben, wenn sich die Auswertungszeiträume der Gutachterausschüsse zeitlich überlappen. Darüber hinaus ist es mit dem Grundsatz der retrograden Wertermittlung unvereinbar, Erkenntnisse aus Daten nach dem Bewertungsstichtag in die Bewertung einzubeziehen. Im Vorgriff auf eine mögliche gesetzliche Neuregelung ist demnach R B 188 Abs. 3 Satz 2 ErbStR dahingehend auszulegen, dass die Liegenschaftszinssätze anzuwenden sind, die von den Gutachterausschüssen für den letzten Auswertungszeitraum abgeleitet werden, der vor dem Kalenderjahr endet, in dem der Bewertungsstichtag liegt."
Die gesetzliche Neuregelung erfolgte durch das Grundsteuerreform-Umsetzungsgesetz (GrStRefUG) vom 16.07.2021 (BGBl I 2021, 2931). § 188 Abs. 2 Satz 1 BewG wurde – abweichend von dem o. g. BFH-Urteil – in dem Sinne angepasst, dass die Liegenschaftszinssätze anzuwenden sind, "die von den Gutachterausschüssen für den letzten Auswertungszeitraum abgeleitet werden, der vor dem Kalenderjahr endet, in dem der Bewertungsstichtag liegt"; § 177 Abs. 2 BewG ist dabei zu beachten. Die neue Regelung ist auf Bewertungsstichtage nach dem 22.07.2021 anzuwenden (§ 265 Abs. 12 BewG).
Bewertungsstichtag ist der 22.10.2021. Es liegen Liegenschaftszinssätze des Gutachterausschusses im jeweiligen Grundstücksmarktbericht vor: Auswertungszeitraum 2018/2019, Auswertungszeitraum 2019/2020 und Auswertungszeitraum 2020/2021.
Lösung:
Für die Anwendung des § 188 Abs. 2 Satz 1 BewG sind die Liegenschaftszinssätze aus dem Auswertungszeitraum 2019/2020 heranzuziehen.
Rz. 41
Sind von den Gutachterausschüssen Liegenschaftszinssätze in Wertspannen veröffentlicht worden, bestehen keine Bedenken, folgende Vereinfachungsregeln anzuwenden (H B 188 Abs. 2 "Liegenschaftszinssatz in Spannen" ErbStH):
- Liegt der gesetzliche Liegenschaftszinssatz nach § 188 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4 BewG innerhalb der vom Gutachterausschuss angegebenen Spanne, ist der gesetzliche Liegenschaftszinssatz der Grundbesitzbewertung zugrunde zu legen.
- Liegt der gesetzliche Zinssatz außerhalb der Spanne, ist der Liegenschaftszinssatz innerhalb der Spanne zu wählen, die dem gesetzlichen Liegenschaftszinssatz am nächsten liegt. Dies ist der obere oder untere Grenzwert der Spanne.
Kein Liegenschaftszinssatz in Spannen liegt vor, wenn der Gutachterausschuss den Liegenschaftszinssatz als festen Wert vorgibt und zusätzlich nach oben und nach unten eine Standardabweichung benennt. In diesem Fall ist als Liegenschaftszinssatz der vorgegebene Wert anzusetzen.
Rz. 42
Bei der Bestimmung des zutreffenden Liegenschaftszinssatzes ist zunächst von der Grundstücksart auszugehen, die nach dem Bewertungsgesetz maßgebend ist. Sofern der Gutachterausschuss bei der Veröffentlichung der Liegenschaftszinssätze eine von den Grundstücksarten des Bewertungsgesetzes abweichende Unterteilung der Grundstückstypen vornimmt, ist zu prüfen, ob diese Abweichung beim Ansatz des maßgebenden Liegenschaftszinssatzes berücksichtigt werden kann. Können die vom Gutachterausschuss ermittelten Liegenschaftszinssätze den bewertungsrechtlich maßgebenden Grundstücksarten nicht zugeordnet werden, sind die Liegenschaftszinssätze des § 188 Abs. 2 Satz 2 BewG maßgebend (H B 188 Abs. 2 "Liegenschaftszinssatz/maßgebende Grundstücksart" ErbStH).
Ein bebautes Grundstück in Geschäftslage verfügt im Erdgeschoss über einen Laden (80 m², 32.000 EUR Rohertrag) und in den darüber liegenden fünf Etagen über Wohnungen (insgesa...