Umsatzsteuerfreiheit des Betriebs von Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünften
Hintergrund: Bewirtschaftung von Unterbringungseinrichtungen
Die X-GmbH bewirtschaftete im Streitjahr 2014 eine Vielzahl von Unterbringungseinrichtungen für Flüchtlinge, Aussiedler und Obdachlose. Dabei handelte es sich sowohl um Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge in kommunaler Trägerschaft als auch um Erstaufnahmeeinrichtungen verschiedener Bundesländer sowie um eine städtische Obdachlosenunterkunft. Die GmbH verantwortete die Ausstattung, Reinigung und personelle Besetzung der Unterkünfte sowie die soziale Betreuung der untergebrachten Personen. Die GmbH wurde aufgrund vertraglicher Vereinbarung mit dem jeweiligen Träger der Unterkunft (Bundesländer, Städte und Landkreise) tätig. Für ihre Leistungen erhielt sie Zahlungen, die sich nach der Zahl der betreuten Personen oder nach einem Pauschalbetrag bemaßen. Die GmbH wies in ihren Rechnungen keine USt aus.
Das FA behandelter die Umsätze als umsatzsteuerpflichtig. Die dagegen gerichtete Klage wies das FG ab. Die GmbH erbringe eine einheitliche, komplexe sonstige Leistung eigener Art, die weder nach nationalem noch nach Unionsrecht steuerbefreit sei.
Entscheidung: Steuerbefreiung nach Unionsrecht
Der BFH widerspricht dem FG. Er bejaht die Steuerbefreiung nach dem Unionsrecht. Entgegen der Auffassung des FG fehlt es nicht an der Anerkennung der GmbH als Einrichtung mit sozialem Charakter i.S.v. Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.
Keine Steuerbefreiung nach nationalem Recht
Die Befreiung nach § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG greift nicht, da die GmbH keine Grundstücke an die Träger der Unterkünfte überlässt und auch gegenüber den dort untergebrachten Personen keine steuerfreien Vermietungsleistungen erbringt (BFH v. 6.8.2010, V B 65/09, BFH/NV 2010, 2111, Rz. 13). Die von der GmbH erbrachten Leistungen sind auch nicht nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG steuerbefreit. Denn sie sind nicht mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen eng verbunden. Ebenso wenig sind die von der GmbH erbrachten Leistungen nach § 4 Nr. 18 UStG befreit. Denn die GmbH ist weder ein amtlich anerkannter Verband der freien Wohlfahrtspflege noch einem solchen Verband als Mitglied angeschlossen.
Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL
Die Steuerbefreiung knüpft an leistungs- und an personenbezogene Voraussetzungen an:
- Es muss sich um eng mit der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen handeln,
- die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen erbracht werden, die von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit im Wesentlichen sozialem Charakter anerkannt worden sind.
Eng mit der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene Leistung
Bei diesem Tatbestandsmerkmal handelt es sich um einen eigenständigen Begriff des Unionsrechts. Zu den befreiten Umsätzen gehören insbesondere Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung für u.a. wirtschaftlich hilfsbedürftige Personen (EuGH-Urteil Kügler v. 10.9.2002, C-141/00, EU:C:2002:473, UR 2002, 513, Rz 44) sowie der Betrieb von Heimen für betreutes Wohnen (vgl. EuGH-Urteile Kingscrest Associates und Montecello, EU:C:2005:322, UR 2005, 453, und Les Jardins de Jouvence v. 21.1.2016 - C-335/14, EU:C:2016:36, UR 2016, 391, Rz 41 ff.).
Begünstigte Dienstleistung der GmbH
Der Betrieb von Flüchtlingsunterkünften ist eine derartige Dienstleistung. Das von der GmbH erbrachte Leistungsbündel stellt eine einheitliche Leistung in Gestalt des Betriebs der jeweiligen Unterkunft dar. Gegen die Steuerbefreiung spricht nicht, dass allgemeine Geschäftsführungs- und Verwaltungsleistungen nicht zu den eng mit der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen zählen. Denn die Betreiberleistungen der GmbH gehen über allgemeine Geschäftsführungs- und Verwaltungsleistungen hinaus. Sie umfassen auch die Ausstattung und Reinigung der Räumlichkeiten, die soziale Unterstützung der Flüchtlinge sowie die personelle Besetzung der Unterkünfte.
Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter
Die Aufstellung der Regeln, nach denen Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann, obliegt dem innerstaatlichen Recht. Zu den maßgeblichen Gesichtspunkten gehören: das Bestehen spezifischer Vorschriften der sozialen Sicherheit, das Gemeinwohlinteresse, ähnliche Anerkennung für andere Steuerpflichtige und die Übernahme der Kosten durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit, insbesondere, wenn die privaten Wirtschaftsteilnehmer vertragliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen unterhalten (BFH v. 17.7.2019, V R 27/17, BFH/NV 2019, 1478, Rz 26).
Anerkennung der GmbH als soziale Einrichtung
Die Anerkennung der GmbH folgt zum einen aus den spezifischen für sie geltenden Vorschriften (Flüchtlingsaufnahmegesetze) und zum anderen aufgrund der Kostentragung durch die öffentliche Hand (Kommunen und Länder). Ferner dient die GmbH dem Gemeinwohlinteresse. Denn aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums folgen Sozialstandards im Asylverfahren, zu denen auch eine angemessene Unterkunft gehört. Die danach bestehende Anerkennung der GmbH im Bereich der Flüchtlingsunterkünfte wirkt auch für die gleichartigen Leistungen der GmbH beim Betrieb der Erstaufnahmeeinrichtung und der Obdachlosenunterkunft.
Zurückverweisung an da FG
Die GmbH hatte neben dem Betrieb der Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünfte weitere Umsätze getätigt, für die keine ausreichenden Feststellungen vorliegen (z.B. Abschiebehaftanstalt, nicht hilfsbedürftige Aussiedler). Der BFH verwies daher die Sache an das FG zurück.
Hinweis: Leistungsbündel
Die Entscheidung betrifft unterschiedliche Gestaltungen. Zum einen geht es um den Betrieb eines Flüchtlingsheims bzw. einer Obdachlosenunterkunft in Fällen, in denen das Gebäude dem Betreiber vom Leistungsempfänger (z.B. Kommune) entgeltlich oder unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde. Hier hat der BFH die Würdigung des FG, es handele sich bei dem Leistungsbündel um eine einheitliche Leistung als zutreffend übernommen. Zum anderen lag der Fall so, dass die Betreiberin (GmbH) die in ihrem Eigentum stehende Gemeinschaftsunterkunft (entgeltlich) dem Träger zur Nutzung überlassen hatte (betr. Objekt "X-Straße in C"). In diesem Fall lag (auch ohne gesonderte Entgeltvereinbarung) neben der Betreiberleistung eine (steuerfreie) separate Grundstücksüberlassung vor.
BFH Urteil vom 24.03.2021 - V R 1/19 (veröffentlicht am 26.08.2021)
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