Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastung
Hintergrund: Befruchtung von sieben Eizellen
Der Ehemann (M) leidet an einer sog. Subfertilität. In 2010 wurden bei seiner späteren Ehefrau (F) im Wege der intrazystoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) mehrere Versuche unternommen, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Zunächst wurden vier, dann sieben Eizellen befruchtet. Nach Durchführung der sog. Blastozystenkultur (extrakorporale Kultur während der ersten vier bis sechs Tage nach Vornahme der ICSI) wurden F die jeweils verbliebenen zwei Embryonen eingesetzt. Die Behandlung fand in einer Klinik in Österreich statt.
M machte für 2010 die Behandlungskosten von rund 17.000 EUR als außergewöhnliche Belastung geltend. Die Rechnungen und Rezepte waren auf F ausgestellt. Das FA und nachfolgend das FG lehnten die Berücksichtigung mit der Begründung ab, die Befruchtung von mehr als drei Eizellen widerspreche dem Embryonenschutzgesetz (ESchG).
Entscheidung: Deutscher Mittelweg
Der BFH verweist auf die ständige Rechtsprechung, nach der Aufwendungen für die künstliche Befruchtung bei Sterilität als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sind, wenn die Behandlung mit den Berufsordnungen für Ärzte und den innerstaatlichen Gesetzen, insbesondere dem ESchG, in Einklang steht (BFH v. 16.12.2010, VI R 43/10, BStBl II 2011, 414).
Entgegen der Auffassung des FA und des FG verbieten die Berufsordnungen für Ärzte bei einer ICSI nicht, mehr als drei Eizellen zu befruchten. Denn die in der Musterrichtlinie der Bundesärztekammer enthaltene Beschränkung auf maximal drei Embryonen bezieht sich lediglich auf die einzeitige Übertragung der Embryonen, nicht auch auf die Befruchtung. Die abweichend davon in der Kommentierung zu 3.1.2 der Muster-RL vertretene Auffassung, die Befruchtung von mehr als drei Eizellen sei unzulässig, ist nicht bindend und wurde nicht in die Richtlinien der Landesärztekammern übernommen.
Auch das ESchG steht der Befruchtung von mehr als drei Eizellen nicht entgegen. Das Gesetz verbietet zum einen, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen zu übertragen (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG) und zum anderen, mehr Eizellen zu befruchten, als innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG). Der Wortlaut legt somit die Zahl der Eizellen, die höchstens befruchtet werden dürfen, nicht fest. Verboten ist vielmehr nur, mehr Eizellen zu befruchten, als innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen. Es darf somit diejenige Anzahl von Eizellen befruchtet werden, aus der sich voraussichtlich so viele Embryonen entwickeln werden, wie innerhalb eines Zyklus übertragen werden dürfen. Legte man § 3 Abs. 1 Nr. 5 ESchG dahin aus, dass jeweils nur drei Eizellen befruchtet werden dürften, wären die Erfolgschancen einer Behandlung äußerst gering, da ohnehin nur 20 % bis 30 % der Eizellen im Vorkernstadium überhaupt zu Blastozyten heranwachsen und nur diese ein realistisches Potential auf die Entstehung einer Schwangerschaft haben.
§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG ist daher dahin auszulegen, dass es dem Arzt erlaubt ist, so viele Eizellen zu befruchten, wie nach seiner Beurteilung unter Berücksichtigung des individuellen Prognoseprofils der Patientin und des Paares erforderlich sind, um einerseits entwicklungsfähige Embryonen zu erhalten und andererseits höhergradige Mehrlingsschwangerschaften zu verhindern (sog. deutscher Mittelweg). Beabsichtigt der Arzt das Entstehen von lediglich ein bis zwei entwicklungsfähigen Embryonen zum Zweck der Übertragung, widerspricht die Behandlung daher selbst dann nicht dem ESchG, wenn in Einzelfall unbeabsichtigt mehr entwicklungsfähige Embryonen entstehen sollten.
Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück. Hinsichtlich der ersten Behandlung (vier befruchtete Eizellen) hat der BFH keine Bedenken, dass der deutsche Mittelweg eingehalten ist. Für den zweiten Versuch unter Verwendung von sieben Embryonen hat das FG anhand eines Sachverständigengutachtens aufgrund einer individuellen Prognose zum Zeitpunkt der Befruchtung der Eizellen zu entscheiden.
Hinweis: Gesamtheitliche Maßnahme
Die Entscheidung entspricht der Rechtsprechung, nach der die In-vitro-Fertilisation – beim Mann wie bei der Frau – eine zur Abziehbarkeit der Kosten als außergewöhnliche Belastung führende medizinische Leistung ist. Der körperliche Mangel wird zwar nicht behoben, aber jedenfalls kompensiert oder "umgangen". Das gilt auch für die bei der – gesunden - Ehefrau durchzuführenden Maßnahmen, da allein durch eine Behandlung des Ehemanns keine Linderung erreicht werden kann. Die Behandlung ist – ebenso wie bei der heterologischen Insemination – insgesamt als untrennbare Einheit zu sehen (BFH v. 16.12.2010, VI R 43/10, BStBl II 2011, 414; Haufe Index 2623127). Deshalb sind auch die Aufwendungen, die die spätere Ehefrau F betreffen, Aufwendungen zur Behandlung einer Krankheit des M. Sie sind bei ihm, soweit er sie getragen hat, als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.
BFH, Urteil v. 17.5.2017, VI R 34/15, veröffentlicht am 23.8.2017.
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