Kindergeld bei Pflegekindschaftsverhältnis zu einem volljährigen Behinderten
Hintergrund
Kindergeld wird nicht nur für leibliche Kinder, sondern auch für Pflegekinder gewährt. Voraussetzung ist, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern nicht mehr besteht und zu der pflegenden Person ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band besteht. Zu entscheiden war, unter welchen Voraussetzungen bei der Aufnahme einer bereits volljährigen geistig behinderten Person eine solche Beziehung angenommen werden kann.
Frau A (Jahrgang 1954) nahm 1999 die 1952 geborene Frau S in ihren Haushalt auf und betreut sie im Rahmen der "Familienpflege für erwachsene geistig und körperlich behinderte Menschen". Die Familienkasse lehnte den 2007 gestellten Kindergeldantrag der A ab, da S kein Pflegekind sei. Das FG bejahte dagegen die Kindergeldberechtigung. Zwischen A und S habe ein familienähnliches Band bestanden. Eine Behinderung derart, dass die betreute Person in ihrer Entwicklung einem Kind gleiche, sei nicht erforderlich. Es genüge, dass sie ohne die Familienpflege nicht selbständig leben könne und in einem Heim untergebracht werden müsse.
Entscheidung des BFH
Der BFH vertritt eine strengere Auffassung. Für ein familienähnliches Band ist erforderlich, dass das Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsverhältnis seine Grundlage in einer ideellen Dauerbeziehung findet. Dabei ist neben den äußeren Lebensumständen auch entscheidend, ob das Pflegekind in der Familie eine natürliche Einheit von Versorgung, Erziehung und "Heimat" findet, also nicht nur Kostgänger ist, sondern wie zur Familie gehörig angesehen und behandelt wird. Deshalb lässt sich ein familienähnliches Band zu einem Erwachsenen nur unter besonderen Umständen begründen:
• Bei geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen muss die Behinderung so schwer sein, dass der Zustand dem typischen Entwicklungsstand eines noch Minderjährigen entspricht. Weiter ist erforderlich, dass trotz der Beeinträchtigung die Möglichkeit und Bereitschaft zu einer erzieherischen Einwirkung bestehen.
• Hinzukommen muss, dass die geistig oder seelisch kranke Person - trotz Überwachung, Anweisung und Unterstützung - wie zur Familie gehörig angesehen wird (Wohn-/Lebensverhältnisse innerhalb der Familie, Eingliederung in die Rolle des Kindes gegenüber den Pflegeeltern und etwaigen Pflegegeschwistern, gemeinsame Mahlzeiten, Freizeit- und Urlaubsaktivitäten).
• Ferner muss eine aus einem Autoritätsverhältnis abgeleitete Einwirkungsmöglichkeit der pflegenden Person bestehen.
• Das familiäre Band muss aus Sicht der pflegenden Person auf Dauer - mindestens für zwei Jahre - beabsichtigt sei.
Der BFH verwies die Sache weiteren Aufklärung dieser Umstände an das FG zurück.
Hinweis
Die Entscheidung verdeutlicht, dass auch eine Person, die älter ist als die pflegende Person, deren Pflegekind sein kann. Auf das Alter oder den Altersunterschied ist nicht abzustellen. Deshalb kann auch ein betreutes Geschwister Pflegekind sein. Bei der Wertung der vielen Einzelumstände, die das familienähnliche Band prägen, ist das Alter jedoch von nicht ganz zu vernachlässigender Bedeutung. Im Übrigen präzisiert der BFH, dass jedenfalls allein der Umstand, dass eine Person nicht mehr allein leben kann, für ein Pflegekindschaftsverhältnis nicht ausreicht. Fälle in der Art des betreuten Wohnens scheiden daher aus. Ob schon jemand auf die Idee kam, seine - dementen - Eltern als Pflegekinder auszugeben, ist nicht bekannt.
Zu einer bereits volljährigen Person lässt sich ein auf längere Dauer angelegtes familienähnliches Band nur bei Vorliegen ganz besonderer Umstände begründen.
BFH, Urteil v. 9.2.2012, III R 15/09, veröffentlicht am 2.5.2012
Alle am 2.5.2012 veröffentlichten Entscheidungen im Überblick
-
Vermietung an den Partner in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft
812
-
BVerfG verhandelt im November zum Solidaritätszuschlag
707
-
Antrag auf Aufteilung der Steuerschuld nach § 268 AO ist unwiderruflich
690
-
Abschreibung für eine Produktionshalle
632
-
Selbst getragene Kraftstoffkosten bei der 1 %-Regelung
544
-
Berechnung der Zehn-Jahres-Frist bei sanierungsrechtlicher Genehmigung
519
-
Abzug von Fahrtkosten zur Kinderbetreuung
493
-
Neue Grundsteuer B in Baden-Württemberg ist verfassungsmäßig
473
-
Sonderausgabenabzug für einbehaltene Kirchensteuer auf Kapitalerträge aus anderen Einkunftsarten
465
-
Anschrift in Rechnungen
421
-
Alle am 21.11.2024 veröffentlichten Entscheidungen
21.11.2024
-
Keine Rückstellung für vorläufig festgesetzte Zinsrückzahlung
21.11.2024
-
Erfordernis der Glaubhaftmachung gem. § 52a Abs. 6 FGO
20.11.2024
-
Betriebsausgabenabzug für steuerfreie Photovoltaikanlagen auch in 2022 möglich
18.11.2024
-
Keine AdV bei geltend gemachter Verfassungswidrigkeit der Grundsteuerwertermittlung
18.11.2024
-
BFH zur Vorteilsminderung bei der 1 %-Regelung
18.11.2024
-
Bestattungskosten als Nachlassverbindlichkeiten bei Zahlung aus einer Sterbegeldversicherung
18.11.2024
-
Erbschaftsteuerlicher Freibetrag bei Erbverzicht der Elterngeneration
18.11.2024
-
Hinzurechnungsbesteuerung und Kapitalverkehrsfreiheit bei Schweizer Tochtergesellschaften
15.11.2024
-
Keine Kfz-Steuerbefreiung bei untergeordneter land- und forstwirtschaftlicher Tätigkeit
15.11.2024