Keine Besteuerung von Scheinrenditen bei nicht abgeführter Kapitalertragsteuer
Hintergrund: Von Scheinrenditen einbehaltene und nicht abgeführte KapSt
Der Anleger (A) hatte in 2011 bis 2013 von der Betrugsfirma des C Scheinrenditen aus Dividenden und Aktienverkäufen erzielt, die er nicht erklärt hatte.
C hatte ein Schneeballsystem mit fingierten Aktiengeschäften betrieben, das in 2013 aufflog. Er bescheinigte dem A erhebliche Gewinne aus Aktienverkäufen. Die Scheingewinne zahlte er teils (auf ein Konto der Tochter des A) aus, teils wurden sie (scheinbar) "wieder angelegt". Auf den Abrechnungen wies C rechnerisch zutreffend den Einbehalt der KapSt (einschließlich SolZ) aus. Die KapSt wurde jedoch von C weder beim FA angemeldet noch an das FA abgeführt, was dem A nicht bekannt war.
Aufgrund einer Kontrollmitteilung erließ das FA geänderte Bescheide, in denen es die Gewinne aus Aktienverkäufen und Dividendenerträge der Besteuerung unterwarf. Da die KapSt nur "auf dem Papier" einbehalten, aber nicht angemeldet und abgeführt wurde, hätten die Gewinne nicht der KapSt unterlegen i.S.v. § 32d Abs. 3 EStG. Die abgeltende Wirkung des Steuerabzugs nach § 43 Abs. 5 EStG sei daher nicht eingetreten. Die von C einbehaltene KapSt wurde nicht angerechnet.
Das FG gab der dagegen erhobenen Klage statt. Die als einbehalten ausgewiesene KapSt entfalte auch dann Abgeltungswirkung, wenn sie nicht abgeführt werde. Anschließend erließ das FA geänderte Bescheide, mit denen es die Bemessungsgrundlage für die von A erzielten Schein-Kapitaleinkünfte um die von C einbehaltene KapSt minderte.
Entscheidung: Abgeltungswirkung auch bei nicht angemeldeter/abgeführter KapSt
Die Scheinrenditen sind A in voller Höhe (ohne Abzug der KapSt) als Kapitaleinkünfte zugeflossen. Entgegen der Auffassung des FA sind sie jedoch nicht in die Steuerfestsetzung einzubeziehen, da die ESt durch die Einbehaltung der KapSt abgegolten wurde.
Kapitaleinkünfte aus vorgetäuschten Gewinnen
Die Kapitaleinkünfte aus den von C vorgetäuschten Gewinnen aus Aktienverkäufen sind dem A zum einen dadurch zugeflossen, dass sie auf seine Anweisung an seine Tochter überwiesen wurden (Leistung an einen Dritten, BFH v. 23.4.1996, VIII R 30/93, BFH/NV 1996, 364). Zum anderen hat A in Höhe der von C bescheinigten und durch fiktive Aktienkäufe "wieder angelegten" Scheinrenditen Einnahmen aus Kapitalvermögen erzielt (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG). Denn A konnte über die Beträge verfügen, da C in den Streitjahren leistungsbereit und leistungsfähig war. Der BFH verweist insoweit auf seine Rechtsprechung zum Zufluss von Scheinrenditen in Schneeballsystemen (BFH v. 2.4.2014, VIII R 38/13, BStBl II 2014, 698).
Zufluss auch der einbehaltenen KapSt-Beträge
Die Bemessungsgrundlage der von A aus den Scheinrenditen erzielten Kapitaleinkünfte mindert sich nicht um die von C einbehaltene KapSt. Der Einbehalt der KapSt erfolgte durch C als auszahlende Stelle (§ 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG) mit abgeltender Wirkung für Rechnung des A als Gläubiger der Kapitalerträge. Dem A sind demnach auch die von C für den Steuerabzug einbehaltenen Kapitalerträge (zzgl. SolZ) zugeflossen (BFH v. 23.4.1996, VIII R 30/93, BFH/NV 1996, 364).
Abgeltungswirkung der einbehaltenen KapSt
Die Scheinrenditen sind jedoch nach § 2 Abs. 5b EStG nicht der ESt-Festsetzung zugrunde zu legen, da sie aufgrund des Einbehalts durch C der KapSt unterlegen haben mit der Folge, dass die Abgeltungswirkung nach § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG eingetreten ist. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Gesetzesbegründung noch aus der Gesetzessystematik ergibt sich, dass die Abgeltungswirkung erst dann eintritt, wenn die einbehaltene KapSt beim FA angemeldet und abgeführt wird. Dieses Normverständnis wird auch durch die in den gesetzlichen Ausschlussregelungen zur Abgeltungswirkung vorgesehene Risikoverteilung bestätigt. Nach § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG tritt die Abgeltungswirkung nicht ein, wenn der Gläubiger der Kapitalerträge nach § 44 Abs. 1 Sätze 10 und 11 (früher: 8 und 9) und Abs. 5 EStG in Anspruch genommen werden kann. Könnte der Gläubiger gleichwohl in Anspruch genommen werden, würde die Ausnahme des § 43 Abs. 5 i.V.m. § 44 Abs. 5 EStG leerlaufen. Das FA bedient sich bei der Abgeltungsteuer - wie bei der Anrechnung nach § 36 Abs. 2 EStG - mit dem Schuldner der Kapitalerträge (bzw. der auszahlenden Stelle) eines privaten Einbehaltungspflichtigen, der dem Steuerpflichtigen (Anleger) als verlängerter Arm der Finanzverwaltung gegenübersteht, so dass dieser die Abführung der einbehaltenen KapSt nicht beeinflussen kann. Die sachgerechte Risikoverteilung gebietet demnach, dass der Fiskus den Ausfall der KapSt zu tragen hat, wenn der Abzug ordnungsgemäß erfolgt ist, die KapSt jedoch nicht an das FA abgeführt wird.
Subjektive Sicht des Anlegers
Das FA geht davon aus, die subjektive Sicht des Anlegers sei nur bei der Besteuerung der Scheinrenditen entscheidend. Der BFH vertritt dagegen die Auffassung, auch bei der Abgeltungswirkung sei auf die Sicht des Anlegers abzustellen. Wenn es bei Scheinrenditen für den Zufluss entscheidend ist, dass der Anleger davon ausgehen durfte, er hätte statt des "Stehenlassens" des gutgeschriebenen Betrags die Auszahlung verlangen können, muss es auch für die Abgeltungswirkung auf die subjektive Sicht ankommen. Konnte der Steuerpflichtige davon ausgehen, dass die Scheinrenditen, die ihm nach der Rechtsprechung des BFH zugeflossen sind, dem Steuerabzug unterlegen haben, ist die ESt daher abgegolten.
Hinweis: Grundsatz der Folgerichtigkeit
Die Gleichheit verlangt bei der ESt eine an der finanziellen Leistungsfähigkeit ausgerichtete, folgerichtige Ausgestaltung der Belastung (BVerfG-Urteil v. 9.12.2008, 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210). Wenn Scheinrenditen steuerbar sind, müssen auch von einem scheinbaren Ertrag scheinbar einbehaltene Steuerabzugsbeträge berücksichtigt werden. In zwei weiteren Urteilen gleichen Datums hat der BFH im Wesentlichen inhaltsgleich entschieden (BFH v. 27.10.2020, VIII R 42/18 und VIII R 3/20). Die Entscheidung hat wegen zahlreicher anhängiger Parallelfälle weitreichende Bedeutung.
BFH Urteil vom 29.09.2020 - VIII R 17/17 (veröffentlicht am 14.05.2021)
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