Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel: Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten, Hinzuziehung eines Dolmetschers
Leitsatz (NV)
1. Das Vorbringen, mit dem angefochtenen Urteil habe das FG gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen, muss detailliert begründet werden, weil ein solcher Einwand sowohl das materielle Recht als auch die Handhabung von Verfahrensrecht betreffen kann. Nur wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen nicht entspricht, oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist, ist § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt.
2. Auf den Verfahrensverstoß, der darin liegen soll, dass das FG keinen Dolmetscher hinzugezogen hat, kann sich ein Beteiligter jedenfalls dann nicht mit Erfolg berufen, wenn er seinen prozessualen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist und das Gericht nicht rechtzeitig auf etwaige Verständigungsmängel hingewiesen oder selbst für die Anwesenheit eines Dolmetschers gesorgt hat.
Normenkette
AO § 110; FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3; GVG § 185
Verfahrensgang
FG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 28.05.2008; Aktenzeichen 3 K 2/08) |
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) zum Teil nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Weise dargelegt; im Übrigen liegen sie nicht vor.
1. Der Kläger rügt sinngemäß, das angefochtene Urteil verstoße gegen den klaren Inhalt der Akten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), weil das Finanzgericht (FG) im Widerspruch zum Akteninhalt nicht beachtet habe, dass er bereits bei Einlegung des Einspruchs einen ein Versäumnis entschuldigenden Sachverhalt nachvollziehbar dargelegt und den entsprechenden Vortrag zulässigerweise im Klageverfahren ergänzt habe. Zudem habe das FG nicht beachtet, dass die Steuerbescheide nicht dem Bevollmächtigten, sondern dem Kläger bekannt gegeben worden seien, obwohl nach Aktenlage der Kläger seit mindestens 1998 von einem Bevollmächtigten vertreten worden sei.
a) Das Vorbringen, mit dem angefochtenen Urteil habe das FG gegen den klaren Inhalt der Akten verstoßen, muss detailliert begründet werden, weil ein solcher Einwand sowohl das materielle Recht als auch die Handhabung von Verfahrensrecht betreffen kann (s. Senatsbeschluss vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947, sowie Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 80, m.w.N.). Nur wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist, ist § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 96 FGO nicht gebietet, alle im Einzelfall gegebenen Umstände im Urteil zu erörtern. Es ist vielmehr im Allgemeinen davon auszugehen, dass ein Gericht auch denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. September 1999 I B 83/98, BFH/NV 2000, 673; vom 19. Dezember 2007 X B 89/07, BFH/NV 2008, 599).
b) Der Kläger lässt außer Acht, dass das FG im Tatbestand des Urteils die von ihm genannten Wiedereinsetzungsgründe (Türkeireise im Zeitpunkt des Ergehens der Bescheide vom 26. April 2007; fehlende Aufnahmefähigkeit im April/Mai 2007 wegen der Erkrankung seiner fast 80-jährigen Mutter; Bescheinigung seines Hausarztes, wonach der Kläger in der Zeit von Mai bis Juli 2007 infolge einer familiären Notsituation nicht voll geschäftsfähig gewesen sei und zudem unter einer Erkrankung des Bewegungsapparats und des gastrointestinalen Systems gelitten habe) genannt hat. In den Entscheidungsgründen hat es zudem die im Klageverfahren vorgelegte privatschriftliche Stellungnahme des die Mutter behandelnden Arztes in der Türkei erwähnt. Das FG hielt die vom Kläger vorgetragenen Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung) augenscheinlich jedoch nicht für ausreichend. Es stellte vielmehr darauf ab, dass der Kläger während des Einspruchsverfahrens keinerlei Angaben zur Schwere der Erkrankung seiner Mutter, des Zeitpunkts ihres Eintritts und des Wegfalls des Hindernisses, geschweige denn solche Angaben glaubhaft gemacht hat. Die erst im Klageverfahren vorgelegte privatschriftliche Stellungnahme des Arztes war nach Auffassung des FG verspätet. Das Gericht maß zudem der Tatsache Bedeutung bei, dass konkrete Angaben zu der Erkrankung des Klägers ebenso wie deren Glaubhaftmachung völlig fehlen. Entscheidend für das FG war jedoch der Umstand, dass nach der Rechtsprechung Krankheit generell kein Wiedereinsetzungsgrund sei. Sie könne eine Wiedereinsetzung nur dann rechtfertigen, wenn sie so schwer und unvermutet eintrete, dass der Steuerpflichtige dadurch gehindert sei, seine steuerlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen. Somit hat das FG die vom Kläger vorgebrachten Tatsachen lediglich anders als von ihm gewünscht gewertet. Dies begründet jedoch keinen Verfahrensfehler (vgl. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Rz 108).
c) Die Nichtberücksichtigung der dem Bevollmächtigten des Klägers erteilten Zustellungsvollmacht kann schon deshalb keinen Verfahrensfehler begründen, weil eine solche ausweislich des Akteninhalts im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Bescheide vom 26. April 2007 nicht vorlag.
2. Die Zulassung der Revision wegen des behaupteten Verstoßes gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), weil das FG angebotene Beweismittel übergangen haben soll, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger sein Rügerecht verloren hat. Das FG hatte zur mündlichen Verhandlung keinen Zeugen geladen. Somit war für den Kläger erkennbar, dass das FG die beantragte Zeugenvernehmung nicht durchzuführen beabsichtigt. Dennoch hat er dies ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung --eine Protokollberichtigung insoweit hat das FG abgelehnt-- nicht gerügt. Nach ständiger Rechtsprechung liegt darin ein Verzicht auf die Geltendmachung des Verfahrensmangels des Übergehens eines Beweisantrags (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 28. September 2005 XI B 134/04, BFH/NV 2006, 314; vom 11. August 2006 VIII B 322/04, BFH/NV 2006, 2280, m.w.N.).
Im Übrigen sollten die vom Kläger in der Klagebegründung benannten Zeugen zu den Erkrankungen des Klägers ab August 2006 bzw. Februar 2007 Auskunft erteilen. Da nach Auffassung des FG Krankheiten nur dann eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, wenn sie u.a. unvermutet eintreten, der Kläger jedoch im April/Mai 2007 die Einspruchsfrist versäumt hätte, hatte das FG keine Veranlassung, den Hausarzt und den Mitarbeiter des Klägers als Zeugen zu hören, sondern konnte den Vortrag als wahr unterstellen.
3. Auch die weitere Rüge, das FG habe seine Fürsorge- und Hinweispflicht verletzt, weil es den im finanzgerichtlichen Verfahren nicht vertretenen Kläger nicht in verständlicher Form darauf aufmerksam gemacht habe, dass er Wiedereinsetzungsgründe nicht ausreichend dargelegt bzw. glaubhaft gemacht habe, kann nicht die Zulassung der Revision begründen. Zum einen wurde der Kläger im Einspruchsverfahren --anders als im Klageverfahren-- durch einen Steuerberater vertreten; auch die Einspruchsentscheidung ist an diesen ergangen. Mit Schreiben vom 9. Oktober 2007 hat das FA diesen darauf hingewiesen, dass ausreichende Wiedereinsetzungsgründe nicht dargelegt und glaubhaft gemacht worden seien. Bei dieser Sachlage musste der Kläger damit rechnen, dass auch das FG Wiedereinsetzungsgründe verneinen wird. Es hätte ihm oblegen, auch ohne entsprechende Hinweise des FG weitere Nachweise vorzulegen.
Im Übrigen wäre ein möglicher Verfahrensfehler des FG auch nicht ursächlich für seine Entscheidung. Wie oben unter 2. ausgeführt, ist nach Auffassung des FG nur eine unvermutet eintretende Erkrankung geeignet, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu rechtfertigen. Hieran fehlte es aber nach dem Vortrag des Klägers im FG-Verfahren.
4. Auf den Verfahrensverstoß, der darin liegen soll, dass das FG keinen Dolmetscher hinzugezogen hat (§ 155 FGO i.V.m. § 185 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes), kann sich der Kläger jedenfalls deshalb nicht mit Erfolg berufen, weil er es insoweit versäumt hat, seinen prozessualen Obliegenheiten nachzukommen (vgl. dazu die Beschlüsse des erkennenden Senats vom 2. November 2000 X B 39/00, BFH/NV 2001, 610, und vom 9. Februar 2005 X B 156/04, BFH/NV 2005, 907, m.w.N.). In Erfüllung seiner prozessualen Mitwirkungspflichten hätte der Kläger rechtzeitig entweder das Gericht auf etwaige Verständigungsmängel hinweisen oder selbst für die Anwesenheit eines Dolmetschers sorgen müssen.
Fundstellen