Entscheidungsstichwort (Thema)
Veränderte Umstände i. S. des § 69 Abs. 6 FGO bei nachträglicher Vollmachterteilung
Leitsatz (NV)
1. Wird ein Antrag auf AdV mangels Vorlage einer Prozeßvollmacht als unzulässig abgelehnt, so kann die nachträgliche Erteilung einer Prozeßvollmacht, nicht aber die nachträgliche Vorlage einer bereits erteilten Vollmacht ein veränderter Umstand gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO sein.
2. Die Wiederholung eines bereits abgelehnten AdV-Antrags ist nur unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 6 FGO zulässig.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 6
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) erhob Klage gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1992 einschließlich Solidaritätszuschlag und Zinsbescheid zur Körperschaftsteuer 1992 sowie gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1993. Sie ließ ferner beim Finanzgericht (FG) durch einen Prozeßbevollmächtigten, dem sie am 22. September 1995 eine Prozeßvollmacht erteilt hatte, Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide beantragen. Da die Prozeßvollmacht dem FG nicht vorgelegt wurde, wurde die Antragstellerin von der Geschäftsstelle des Gerichts zur Vollmachtsvorlage bis zum 1. Dezember 1995 aufgefordert. Der Prozeßbevollmächtigte teilte daraufhin mit, daß die Originalvollmacht sich in den Akten der Hauptsache befinde. Da das nicht zutraf, lehnte das FG mit Beschluß vom 4. Dezember 1995 den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung als unzulässig ab und legte dem Prozeßbevollmächtigten die Kosten des Verfahrens auf.
Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 1995 beantragte der Prozeßbevollmächtigte, der nunmehr mit Klagebegründungsschrift vom 13. Dezember 1995 die Vollmacht vorgelegt hatte, Aufhebung des ablehnenden Beschlusses über die Aussetzung der Vollziehung und Stattgabe seines Antrags gemäß § 69 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG lehnte diesen Antrag am 22. Dezember 1995 ab. Daraufhin beantragte der Prozeßbevollmächtigte, die bisherigen Beschlüsse nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO aufzuheben und in der Sache zu entscheiden. Auch diesen Antrag lehnte das FG ab.
Nunmehr beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin erneut Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO. Dieser Antrag wurde wiederum unter Hinweis auf § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO als unzulässig abgelehnt (Beschluß vom 20. Februar 1996).
Mit ihrer vom FG zugelassenen Beschwerde rügt die Antragstellerin Verletzung des § 69 Abs. 3 und 6 FGO und beantragt, den Beschluß des FG vom 20. Februar 1996 aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist als unbegründet zurückzuweisen.
1. Nach § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 69 Abs. 3 und 5 Satz 3 FGO jederzeit ändern oder aufheben. Ein Beteiligter kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen (§ 69 Abs. 6 Satz 2 FGO). Nur unter den in § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO genannten Voraussetzungen ist auch eine Wiederholung eines bereits abgelehnten Antrags zulässig, da anderenfalls diese Vorschrift durch eine neue Antragstellung unterlaufen werden könnte (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 23. Juli 1990 IV B 60/89, BFH/NV 1991, 699, m. w. N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Tz. 22). Der Beschluß des BFH vom 24. Oktober 1968 IV B 40/68 (BFHE 93, 543, BStBl II 1969, 40) ist insoweit durch die geänderte Gesetzeslage überholt (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 25. Oktober 1994 VIII B 101/94, BFH/NV 1995, 611; a. A. List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 60 FGO Rdnr. 93; Gosch in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 69 FGO Rdnr. 334).
2. Die Tatsache, daß der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin nach Ergehen des Beschlusses über die Aussetzung der Vollziehung vom 4. Dezember 1995 die ihm bereits vorher erteilte Prozeßvollmacht vorgelegt hat, ist kein veränderter Umstand i. S. des § 69 Abs. 6 Satz 2 1. Alternative FGO.§
69 Abs. 6 Satz 2 FGO unterscheidet zwischen "veränderten" Umständen, die einen Neuantrag bzw. eine Beschlußänderung zulassen, und solchen -- unveränderten -- Umständen, die im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemacht wurden.
a) Umstände im Sinne der Norm können Vorgänge tatsächlicher und rechtlicher Art sein. Insbesondere fallen hierunter Tatsachen und Beweismittel (vgl. z. B. BFH-Beschluß vom 7. Juli 1992 V S 3/90, BFH/NV 1995, 327). Dem Gesetz ist nicht zu entnehmen, daß § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO nur solche Umstände erfaßt, die die materielle Begründetheit eines Antrags über Aussetzung der Vollziehung berühren. Auch Vorgänge tatsächlicher oder rechtlicher Art, die die Zulässigkeit eines Antrags beeinflussen können, sind Umstände im Sinne des Gesetzes. So ist es einem Antragsteller, dessen ursprünglicher Aussetzungsantrag mangels Zugangsvoraussetzung nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO als unzulässig abgelehnt wurde, nicht verwehrt, nach nachträglicher Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde einen neuen Antrag zu stellen bzw. eine Änderung des ablehnenden Beschlusses aufgrund "veränderter Umstände" zu beantragen. Dasselbe gilt auch, wenn ein Steuerberater namens seines Mandanten, ohne von diesem bevollmächtigt zu sein, einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stellt, der mangels Prozeßvollmacht als unzulässig abgewiesen wird. Auch in diesem Fall muß dem Steuerpflichtigen aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit die Möglichkeit einer erneuten Antragstellung gegeben werden, sei es durch einen persönlichen Antrag oder durch eine nachträgliche Bevollmächtigung des Beraters. Dies folgt auch daraus, daß einem Steuerpflichtigen, in dessen Namen ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt wird, und der damit Beteiligter des Verfahrens der Aussetzung der Vollziehung wird (so ständige Rechtsprechung; vgl. z. B. Nachweise bei Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 62 Rdnr. 46, m. w. N.), aus dem eigenmächtigen Handeln eines nichtbevollmächtigten Beraters kein Nachteil erwachsen darf. Wird in einem solchen Fall nach Ablehnung des ohne Vollmacht gestellten Antrags eine Vollmacht zur Antragstellung erteilt, so liegt darin ein veränderter Umstand i. S. des § 69 Abs. 6 Satz 2 1. Alternative FGO.
Ein veränderter Umstand in diesem Sinne ist aber nicht zu bejahen, wenn der Prozeßbevollmächtigte vom Steuerpflichtigen vor Ablehnung des Antrags tatsächlich zur Antragstellung schriftlich bevollmächtigt war und er diese Vollmacht -- aus welchen Gründen auch immer -- nicht gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 FGO vorgelegt hat. In diesem Fall hat die nachzuweisende Vollmacht schon im Zeitpunkt der Erstentscheidung vorgelegen und ist nicht erst nachträglich erteilt worden. Nur das nachträgliche Entstehen oder Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln ist ein "veränderter" Umstand (vgl. z. B. BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 611). Würde man allein die nachträgliche Geltendmachung eines -- bereits vorher entstandenen und bekannten -- Beweismittels bzw. den nachträglichen Nachweis der Prozeßvollmacht gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 FGO als veränderten Umstand i. S. des § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO betrachten, so würde die vom Gesetz gewollte Differenzierung zwischen einem veränderten und einem verspätet geltend gemachten Umstand aufgehoben. Hat der Steuerpflichtige bereits vor Ablehnung des Aussetzungsantrags den Prozeßvertreter bevollmächtigt, so richtet sich folglich die Zulässigkeit einer erneuten Antragstellung ausschließlich nach § 69 Abs. 6 Satz 2 2. Alternative FGO. Dies entspricht auch dem Grundsatz, daß sich ein Beteiligter das Verschulden seines Prozeßvertreters nach § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zurechnen lassen muß (vgl. z. B. BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 327; Gräber/Koch, a.a.O., § 56 Rdnr. 6, m. w. N.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 56 FGO Tz. 4 f., m. w. N.).
b) Im Streitfall hat die Antragstellerin den Prozeßbevollmächtigten bereits vor Ergehen des Beschlusses vom 4. Dezember 1996 schriftlich bevollmächtigt. Die Prozeßvollmacht trägt als Datum den 22. September 1995.
Die Antragstellerin hat nicht vorgetragen und es ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Prozeßvollmacht schuldlos i. S. des § 69 Abs. 6 Satz 2 2. Alternative FGO verspätet vorgelegt worden sein sollte. Nach § 62 Abs. 3 FGO ist die Bevollmächtigung durch schriftliche Vollmacht nachzuweisen. Der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin hätte von sich aus diesen Gesetzesbefehl befolgen müssen. Die Tatsache, daß der Vorsitzende oder Berichterstatter für die Vorlage der Prozeßvollmacht eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen kann (§ 62 Abs. 3 Satz 3 2. Halbsatz FGO), entbindet einen Prozeßbeteiligten nicht von der in § 62 Abs. 3 Satz 1 FGO genannten Pflicht. Im übrigen ist der Prozeßbevollmächtigte der Antragstellerin -- was unstreitig ist -- durch Schreiben des FG vom 14. November 1995 auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, eine Prozeßvollmacht nachzureichen.
Da für Verschulden, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, jede Form der Fahrlässigkeit, mithin auch leichte Fahrlässigkeit genügt (vgl. z. B. Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 AO 1977 Tz. 4, m. w. N.; Gräber/ Koch, a.a.O., § 56 Rdnr. 11, m. w. N.), handelt ein Prozeßvertreter auch dann schuldhaft, wenn er -- wie im Streitfall -- versehentlich von der rechtzeitigen Vorlage der Prozeßvollmacht im Hauptsacheverfahren ausging (vgl. Schriftsatz vom 14. Dezember 1995). Ebenso wie bei Einreichung der Klagebegründung am 13. Dezember 1995 hätte der Prozeßbevollmächtigte schon anläßlich der Beantwortung des gerichtlichen Schreibens vom 14. November 1995 feststellen können, daß er bislang die Prozeßvollmacht noch in keinem Verfahren vorgelegt hatte.
Fundstellen