Entscheidungsstichwort (Thema)
Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung einbringungsgeborener Anteile im falschen Veranlagungszeitraum als widerstreitende Steuerfestsetzung i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977; Verletzung rechtlichen Gehörs
Leitsatz (NV)
- Aus einem irrig beurteilten bestimmten Sachverhalt als Gegenstand einer widerstreitenden Steuerfestsetzung i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 können auch dann nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgen gezogen werden, wenn der ursprünglich beurteilte und der tatsächlich verwirklichte Lebens- und Besteuerungssachverhalt nicht vollständig übereinstimmen.
- Das FA ist deshalb gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 zur Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides aufgrund widerstreitender Steuerfestsetzung befugt, wenn es aus einem Einbringungsvorgang im Jahr 01 im Hinblick auf § 20 Abs. 1 und Abs. 6 UmwStG (einbringungsgeborene Anteile) zunächst die unzutreffenden steuerrechtlichen Folgen der Gewinnrealisierung im Einkommensteuerbescheid 01 gezogen hat, dieser Bescheid jedoch auf Grund eines Einspruchs zugunsten des Steuerpflichtigen geändert wurde und der Gewinn aus der Veräußerung der einbringungsgeborenen Anteile bei richtiger steuerlicher Beurteilung im Jahr 03 zu versteuern war.
- In der unterbliebenen Übersendung eines nachgereichten Schriftsatzes kann im Finanzgerichtsprozess ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör liegen, der zur Verfahrensrüge berechtigt.
Normenkette
AO 1977 § 174 Abs. 4 S. 1; UmwStG § 20 Abs. 1, 6; EStG § 17; FGO § 77 Abs. 1 S. 4, § 119 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war im Jahr 1992 ―neben zwei anderen Gesellschaftern― je zu einem Drittel an zwei GmbH beteiligt, der X-GmbH sowie der Z-GmbH. Die Klägerin und ihre beiden Mitgesellschafter waren außerdem zu jeweils einem Drittel an einer AG beteiligt, der Y-AG.
Mit Vertrag vom 12. Juni 1992 gründeten die Gesellschafter eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die A-GbR, in die sie als Sacheinlage ihre Gesellschaftsanteile an der X-GmbH und an der Z-GmbH einbrachten. Die Einbringungen erfolgten zu den Anschaffungskosten in Höhe von 4,5 Mio. DM für alle Anteile der X-GmbH und in Höhe von 210 000 DM für alle Anteile der Z-GmbH. Gleichfalls mit Vertrag vom 12. Juni 1992 übertrugen die Gesellschafter jeweils ihre Gesellschaftsanteile an der A-GbR auf die Y-AG als Sacheinlage gegen Ausgabe neuer Aktien im Nennwert von jeweils 2 450 000 DM. Die Einbringung sollte nach § 20 Abs. 6 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei Änderung der Unternehmensform (UmwStG 1977) zu Buchwerten erfolgen. In der Steuerbilanz der Y-AG wurde entsprechend ein steuerlicher Ausgleichsposten in Höhe von 2 640 000 DM (7 350 000 DM abzüglich Anschaffungskosten der eingebrachten GmbH-Anteile in Höhe von 4 710 000 DM) ausgewiesen. Mit Vertrag vom 17. November 1994 veräußerte die Klägerin alle Anteile an der Y-AG zum Nennwert von 2,5 Mio. DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) behandelte die Übertragung der Gesellschaftsanteile der Klägerin an der A-GbR zunächst als eine nach § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerpflichtige Veräußerung der Anteile an der X-GmbH und Z-GmbH im Jahr 1992. Demgemäß setzte er im Einkommensteuerbescheid 1992 vom 3. Dezember 1998 bei den Einkünften der Klägerin aus Gewerbebetrieb einen Veräußerungsgewinn von 880 000 DM (Differenz zwischen dem Nennwert der erhaltenen Aktien in Höhe von 2 450 000 DM und den Anschaffungskosten der eingebrachten GmbH-Anteile in Höhe von 1 570 000 DM) an. In dem Einkommensteuerbescheid 1994 (Streitjahr) vom 3. Dezember 1998 wurden aus der Veräußerung der Anteile der Klägerin an der Y-AG keine steuerlichen Folgen gezogen.
Die Klägerin legte gegen den Einkommensteuerbescheid 1992 Einspruch ein und begründete diesen damit, dass in diesem Jahr keine Gewinnrealisierung eingetreten sei, weil die Y-AG als aufnehmende Gesellschaft in ihrer Steuerbilanz die Buchwerte fortgeführt habe. Das FA gab dem Einspruch statt und kürzte in dem geänderten Einkommensteuerbescheid 1992 vom 27. April 1999 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb um 880 000 DM. Ebenfalls am 27. April 1999 erließ das FA einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr und erfasste darin einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 880 000 DM als Einkünfte aus Gewerbebetrieb nach § 16 i.V.m. § 34 Abs. 1 EStG. Dabei ging das FA davon aus, dass die Veräußerung der Anteile an der Y-AG im Streitjahr als Veräußerung von einbringungsgeborenen Anteilen i.S. von § 21 Abs. 1 UmwStG 1977 zu behandeln und deshalb der Unterschiedsbetrag zwischen dem Erlös aus der Veräußerung der einbringungsgeborenen Anteile in Höhe von 2 450 000 DM und den Anschaffungskosten der Anteile in Höhe von 1 570 000 DM als Veräußerungsgewinn zu versteuern sei. Die Änderung des Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr vom 3. Dezember 1998 hielt das FA nach § 174 Abs. 3 und 4 der Abgabenordnung (AO 1977) für zulässig.
Die Klägerin verneinte demgegenüber eine solche Änderungsbefugnis. Ihre deswegen erhobene Klage gegen den am 4. Januar 2001 gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 abermals geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr blieb jedoch ohne Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) München vom 17. April 2002 9 K 4177/00 ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2002, 1008 abgedruckt.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision, mit der sie Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Sie beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und unter Änderung des Einkommensteuerbescheides 1994 vom 4. Januar 2001 die Einkommensteuer 1994 auf … DM herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat entscheidet gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss. Er hält die Revision einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind vorher davon unterrichtet und gehört worden.
1. Das FA konnte den angefochtenen Einkommensteuerbescheid vom 27. April 1999 auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 stützen. Dies setzt voraus, dass auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes ein Steuerbescheid ergangen ist, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde oder das Gericht zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert worden ist. Aus dem Sachverhalt können dann nachträglich durch Änderung des Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Diese Voraussetzungen waren erfüllt.
a) Irrige Beurteilung eines Sachverhaltes bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes nachträglich als unrichtig erweist (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Februar 1996 I R 150/94, BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417; Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteile vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647; vom 2. Mai 2001 VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562). Unter einem "bestimmten Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex (BFH-Urteile vom 22. August 1990 I R 42/88, BFHE 162, 470, BStBl II 1991, 387; vom 17. Oktober 1990 I R 9/89, BFH/NV 1991, 354; vom 8. April 1992 X R 213/87, BFH/NV 1993, 406; vom 15. März 1994 XI R 45/93, BFHE 174, 290, BStBl II 1994, 600, 603; in BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647; in BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562; vom 26. Februar 2002 X R 59/98, BFHE 198, 20, BStBl II 2002, 450). Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1993, 406; vom 10. Mai 1995 IX R 68/93, BFH/NV 1995, 1056; in BFHE 183, 6, BStBl 1997, 647; in BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562).
Bezogen auf den Streitfall ist der zu beurteilende Sachverhalt hiernach die Einbringung der von der A-GbR gehaltenen Anteile der Klägerin an der X-GmbH und der Z-GmbH in die Y-AG zum 12. Juni 1992 im Tausch gegen Anteile der Y-AG. Dieser Einbringungsvorgang ist vom FA ―wie unter den Beteiligten unstreitig ist― ursprünglich zu Unrecht als steuerpflichtige Veräußerung gemäß § 17 Abs. 2 EStG aufgefasst worden. Das FA ist insoweit im Hinblick auf § 20 Abs. 1 und Abs. 6 UmwStG 1977 zunächst zu unzutreffenden steuerrechtlichen Ergebnissen gelangt, indem es eine Gewinnrealisierung angenommen und die Möglichkeit einer Buchwertfortführung der eingebrachten GmbH-Anteile in der AG verneint hat. Die Verhältnisse wurden deshalb in dem seinerzeit für 1992 ergangenen Steuerbescheid, der durch das FA im Einspruchsverfahren zugunsten der Klägerin geändert worden ist, rechtsirrig beurteilt.
b) Bei zutreffender Beurteilung dieses Sachverhalts ist die im Streitjahr vorgenommene Veräußerung der einbringungsgeborenen Anteile, die die Klägerin 1992 im Tausch gegen die Anteile an der Y-AG erhalten hat, nicht ―wie im Streitfall zunächst geschehen― als steuerneutraler Veräußerungsvorgang zu behandeln.
Denn der Umstand, dass die veräußerten Anteile an der Kapitalgesellschaft vom Veräußerer durch eine Sacheinlage i.S. des § 20 Abs. 1 UmwStG 1977 erworben worden sind, wirkt sich auf die Besteuerung des Veräußerungsgewinns aus: Setzt die aufnehmende Kapitalgesellschaft das eingebrachte Vermögen mit dem Buchwert oder einem Zwischenwert an, dann erhält der Einbringende für die Sacheinlage einbringungsgeborene Anteile, durch die die Steuerverhaftung der stillen Reserven sichergestellt werden kann. Bei einem späteren Verkauf dieser Anteile gilt deshalb der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten (§ 20 Abs. 4 UmwStG 1977) übersteigt, als Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 EStG (§ 21 Abs. 1 Satz 1 UmwStG 1977). Die Tatbestände des § 20 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 UmwStG 1977 einerseits und des § 21 Abs. 1 Satz 1 UmwStG 1977 andererseits sind insoweit tatbestandlich in Teilbereichen miteinander verknüpft und bauen aufeinander auf. Der eine Lebenssachverhalt ―die Einbringung zu Buchwerten― stellt ein Teilstück jenes gesetzlichen Tatbestandes dar, durch den der andere Lebenssachverhalt ―die Veräußerung der einbringungsgeborenen Anteile― erfasst wird. Auch im Streitfall war die irrige Beurteilung der Einbringung deswegen für die spätere steuerliche Beurteilung der Veräußerung ursächlich.
Bei den Auswirkungen, die die irrige Beurteilung der Einbringung auf die nachfolgende Veräußerung und hierbei den Veräußerungsgewinn hat, handelt es sich nicht lediglich um die "Folgerung aus den steuerlichen Folgen" (so BFH-Urteil in BFHE 174, 290, BStBl II 1994, 600, 603) des in Rede stehenden, zunächst verwirklichten (unveränderten) Sachverhaltes und dessen Beurteilung. Die Sachverhaltszusammenhänge zwischen beiden Vorgängen und deren rechtlicher Einschätzung rechtfertigen es vielmehr, aus der nunmehr "richtigen" Beurteilung des Sachverhaltes hinsichtlich der Einbringung (steuerliche) Rechtsfolgen für die nachfolgende Veräußerung zu ziehen. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 erfordert nicht, dass beide Lebens- und Besteuerungssachverhalte vollständig übereinstimmen müssen.
2. Das angefochtene Urteil bleibt auch in formaler Hinsicht unbeanstandet. Zwar hat das FG es offenbar entgegen § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO versäumt, der Klägerin beizeiten vor der mündlichen Verhandlung den nachgereichten Schriftsatz des FA vom 8. April 2002 zu übersenden. Darin könnte ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör liegen (vgl. § 119 Nr. 3 FGO; BFH-Beschluss vom 18. Juli 1985 VI B 123/84, BFH/NV 1986, 166; s. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 1. Dezember 1972 12/3 RK 68/71, Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung 1972, 799). Die Klägerin hat diesen Verfahrensverstoß jedoch nicht in der gebotenen Weise dargetan. Denn der nachgereichte Schriftsatz des FA wiederholt nur dessen bisheriges Vorbringen und enthält als neuen Vortrag lediglich einen Hinweis auf das BFH-Urteil vom 27. Februar 1997 IV R 28/96 (BFH/NV 1997, 388) sowie die Mitteilung, dass das von der Klägerin zu ihren Gunsten herangezogene BFH-Urteil in BFHE 174, 290, BStBl II 1994, 600 nicht einschlägig sei. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Meinungsäußerung für die Entscheidung des FG erheblich gewesen wäre. In diesen Fällen verlangt die Rechtsprechung für eine zulässige Verfahrensrüge, dass der Revisionskläger im Einzelnen substantiiert darlegt, was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorgebracht hätte und dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre (vgl. Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 119 Rz. 14, m.N. zur Rechtsprechung). Diesen Anforderungen hat die Klägerin aber jedenfalls innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 2 Satz 1 FGO) nicht entsprochen.
Fundstellen
Haufe-Index 1119022 |
BFH/NV 2004, 604 |
DStRE 2004, 423 |