Entscheidungsstichwort (Thema)
Zweifel am Umfang einer Prozeßvollmacht bei ungewöhnlicher Prozeßführung
Leitsatz (NV)
1. Bezieht sich ein Prozeßbevollmächtigter im finanzgerichtlichen Verfahren auf eine im Veranlagungsverfahren vorgelegte allgemeine undatierte Vollmacht, und drängen sich dem FG angesichts der ungewöhnlichen Art der Prozeßführung Zweifel am Umfang der Vollmacht auf, so hat dieses eine neue, vom Kläger selbst auf das Verfahren bezogene Vollmacht zu verlangen.
2. Erhebt ein Prozeßbevollmächtigter Klage gegen eine Beschwerdeentscheidung der OFD, mit der diese einen Rechtsbehelf gegen die Mitteilung des FA über den Grund für die Nichtentscheidung über einen Einspruch (beim BVerfG anhängige Musterverfahren) zurückgewiesen hat, so ist dies eine ungewöhnliche Prozeßführung.
Normenkette
FGO § 62 Abs. 3, § 155; ZPO § 81
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhob unter dem Datum des 29. November 1988 Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1987 vom 17. November 1988, mit dem sie sich u. a. gegen die vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) berücksichtigte Höhe des Ausbildungsfreibetrages, des Kinderfreibetrages und des Grundfreibetrages sowie gegen die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen wandte. Sie war vertreten durch den Bevollmächtigten X, der im Veranlagungsverfahren eine auf ihn lautende undatierte Vollmacht vorgelegt hatte, die ihn u. a. zur Vertretung in den Steuerangelegenheiten der Klägerin "vor allen Gerichten" ermächtigte. Das FA teilte X im Schreiben vom 13. Februar 1991 mit, daß zur Zeit keine Einspruchsentscheidung ergehen könne, weil nicht absehbar sei, ob und in welcher Form der Gesetzgeber den Kinderlastenausgleich neu regeln werde (Hinweis auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BStBl II 1990, 653, sowie vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86, BStBl II 1990, 664).
Außerdem seien Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag anhängig. Gegen das Schreiben legte die Klägerin, vertreten durch X, Beschwerde ein. In der Beschwerdeschrift vertrat X die Auffassung, für das Streitjahr 1987 seien ein Kinderfreibetrag von 6 000 DM sowie ein Grundfreibetrag von 10 000 DM zu berücksichtigen. Die Oberfinanzdirektion (OFD) ließ in ihrer Beschwerdeentscheidung vom 9. Oktober 1991 die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs dahinstehen; sie wies ihn als unbegründet zurück.
Hiergegen richtete sich die von X für die Klägerin eingelegte Klage. Im Verlauf des Klageverfahrens teilte X seine Absicht mit, in der mündlichen Verhandlung die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung wegen "formeller Unbestimmtheit" zu beantragen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. September 1994 erschien für die Klägerin niemand. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es ließ die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) nicht zu.
Gegen die Entscheidung des FG wendet sich der als Prozeßbevollmächtigter der Klägerin auftretende X sowohl mit der Nichtzulassungsbeschwerde als auch mit der vorliegenden Revision. In der Revisionsschrift rügt er, das FG sei nicht vorschriftsmäßig i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) besetzt gewesen.
Die Geschäftsstelle des erkennenden Senats bat X mit Schreiben vom 21. Februar 1995 und vom 5. Mai 1995, der Senatsvorsitzende mit Schreiben vom 7. Dezember 1995 um Vorlage einer Prozeßvollmacht. X hat hierauf nicht reagiert.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
1. Nach § 62 Abs. 3 FGO ist die Bevollmächtigung für ein Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit schriftlich nachzuweisen. Wird eine Vollmachtsurkunde -- wie im Streitfall -- nicht vorgelegt, so fehlt es an einer Prozeßvoraussetzung. Das eingelegte Rechtsmittel ist unzulässig (vgl. BFH-Urteil vom 15. Mai 1981 VI R 212/78, BFHE 133, 344, BStBl II 1981, 678).
2. Die im Veranlagungsverfahren beim FA eingereichte allgemeine Vollmacht reicht als Nachweis für eine Bevollmächtigung im vorliegenden Revisionsverfahren nicht aus.
a) Zwar kann die dem FA vorgelegte Vollmacht grundsätzlich auch zur Prozeßführung vor den FG sowie vor dem BFH berechtigen (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1991 III R 112/89, BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726). Auch kann es genügen, wenn ein Kläger auf eine Vollmacht Bezug nimmt, die in einem anderen Verfahren beigebracht worden ist und dem Gericht eine Einsicht in diese Vollmachtsurkunde ohne weiteres möglich ist (BFH-Beschluß vom 30. Juli 1991 VIII B 88/89, BFHE 165, 22, BStBl II 1991, 848).
b) Jedoch muß das Gericht berechtigten Zweifeln, ob sich eine Vollmacht auf ein konkretes Verfahren erstreckt, nachgehen und kann die Vorlage einer neuen Vollmacht verlangen (Senatsurteil in BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726; BFH-Beschluß vom 7. März 1995 X R 195/93, BFH/NV 1995, 713). Es hat die Klage als unzulässig zu verwerfen, wenn keine neue, ausreichende Klarheit schaffende Vollmacht vorgelegt wird (Senatsurteil in BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726).
c) Im Streitfall sind Zweifel an der Bevollmächtigung des X durch die ungewöhnliche Art der Prozeßführung begründet, die nur durch eine allgemein gehaltene, die Prozeßführung bei Gericht nur beiläufig erwähnende undatierte Vollmacht legitimiert wird (vgl. BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 713). Die Art der Prozeßführung ist im Streitfall aus folgenden Gründen besonders ungewöhnlich:
aa) Der Hauptantrag im Klageverfahren ist auf eine ersatzlose Aufhebung der Beschwerdeentscheidung gerichtet. Für den Senat ist nicht erkennbar, welches persönliche Interesse die Klägerin an diesem Klageziel haben könnte. Ziel der Beschwerde war, das FA zu einer Einspruchsentscheidung zu veranlassen. Es ist nicht ersichtlich, wie dieses Ziel durch die ersatzlose Aufhebung der Beschwerdeentscheidung wegen Unbestimmtheit erreicht werden könnte.
Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß X für die Klägerin die ersatzlose Aufhebung der Beschwerdeentscheidung mit der Begründung verlangt, die OFD habe die Beschwerdeentscheidung mit dem Betreff "Einkommen-/Lohnsteuer-Jahresausgleich" für das Streitjahr getroffen. Es handelt sich um denselben Betreff, den X in seiner Beschwerdeschrift und auch später in allen Schriftsätzen im Klageverfahren und sogar noch im vorliegenden Revisionsverfahren verwendet hat. Für ihn bestand daher offensichtlich keinerlei Unklarheit, um welchen Steuerbescheid es ging.
bb) Dem im Klageverfahren gestellten Hilfsantrag, das FA zu verpflichten, eine abschließende Einspruchsentscheidung zu fällen, stehen schon § 349 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 46 FGO entgegen, wonach eine Beschwerde und auch eine Klage nicht auf die Verpflichtung zum Erlaß einer Einspruchsentscheidung gerichtet sein können.
cc) Allerdings hat das FG in dem angegriffenen Urteil zugunsten der Klägerin angenommen, daß sich das Klagebegehren dahin auslegen lasse, die Klägerin wolle in Wirklichkeit die Aussetzung des Einspruchsverfahrens angreifen, die möglicherweise in der Mitteilung des FA oder in der Beschwerdeentscheidung der OFD liege. Der Senat kann offenlassen, ob eine solche Klage zulässig wäre.
In einer derartigen Klage liegt im Fall ihrer Zulässigkeit jedenfalls ein sehr hohes Prozeßrisiko. Denn der Senat hat entschieden, daß Einspruchsverfahren auszusetzen sind, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FÄ zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und der Einspruchsführer kein berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FA trotz des beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens hat (s. u. a. Senatsentscheidungen vom 8. Mai 1992 III B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673, und III B 123/92, BFH/NV 1993, 244). Wie das FG im Streitfall zu Recht ausgeführt hat, lagen diese Voraussetzungen hier vor.
dd) In der Begründung der Revision macht X zudem deutlich, daß er mit seinem Rechtsmittel gegen das angegriffene Urteil auch überhaupt keine Entscheidung über die Anfechtung des Steuerbescheids in der Sache, sondern im Hinblick auf die beim BVerfG anhängigen Musterverfahren nur eine Aussetzung des Verfahrens auf der Ebene der Klage statt auf der Ebene des Einspruchs erreichen will. Dasselbe Ziel hat X schon für andere Steuerpflichtige über massenhaft erhobene Untätigkeitsklagen nach § 46 FGO angestrebt. Der Senat hat in den Entscheidungen in BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673 und in BFH/NV 1993, 244 und seither in ständiger Rechtsprechung Untätigkeitsklagen, die nur darauf abzielen, eine gebotene Verfahrensaussetzung von der Einspruchsebene auf die Ebene des Klageverfahrens zu verlagern, als rechtsmißbräuchlich angesehen (ebenso der X. Senat des BFH u. a. in seinem Beschluß vom 30. November 1992 X B 18/92, BFH/NV 1993, 732). Es spricht vieles dafür, daß der im Streitfall begangene noch ungewöhnlichere Weg, dieses Ziel über die Beschwerde und die anschließende Klage gegen die Mitteilung des FA über den Grund für die Nichtentscheidung des Einspruchsverfahrens zu erreichen, erst recht mißbräuchlich ist. Wie das FA im Streitfall während des Klageverfahrens unwidersprochen mitgeteilt hat, hat X die der vorliegenden Revision zugrundeliegende Klage sogar neben einer in derselben Sache angestrengten Untätigkeitsklage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
ee) Die Klägerin ist wie jeder Steuerpflichtige nicht gehindert, Klagen zu erheben, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unzulässig oder sogar rechts mißbräuchlich oder jedenfalls mit einem großen verfahrensrechtlichen Prozeßrisiko verbunden sind. Sie kann selbstverständlich nach einem Unterliegen in solchen Fällen den BFH anrufen, um die höchstrichterliche Rechtsprechung erneut auf den Prüfstand zu stellen. Es ist ihr unbenommen, dabei wie im Streitfall -- noch verstärkt durch Einlegung von Revision und Nichtzulassungsbeschwerde nebeneinander -- ein Prozeßkostenrisiko einzugehen, das außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zum gewünschten Erfolg (hier nur etwaige Prozeßzinsen durch die Aussetzung des Verfahrens auf der Klage- statt auf der Einspruchsebene) steht.
In Fällen, in denen ein derart ungewöhnliches Verfahren durch einen "Prozeßbevollmächtigten" angestrengt worden ist, hat der Senat aber besonderen Anlaß zu prüfen, ob das Verfahren wirklich auf einer Vollmacht der Klägerin beruht. Dieser Anlaß wird im Streitfall noch dadurch verstärkt, daß die Klage neben der Untätigkeitsklage erhoben worden ist.
Dabei handelt es sich offenbar nicht um ein einzelnes, auf die Belange und den Willen der Klägerin abgestimmtes Vorgehen des X. Dieser hat vielmehr massenhaft Untätigkeitsklagen für andere Steuerpflichtige erhoben mit dem alleinigen Ziel, eine Verfahrensaussetzung auf der Klageebene statt auf der Einspruchsebene zu erreichen (vgl. Senatsbeschluß in BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673). Wie sich aus den dem Senat vorliegenden Akten des Streitfalls und anderer Verfahren ergibt, geht er zur Erreichung desselben Ziels auch offenbar in breiter Front gegen Mitteilungen der FÄ vor, daß das Einspruchverfahren wegen anhängiger Musterverfahren vor dem BVerfG noch nicht entschieden werden könne.
d) Die von X im Veranlagungsverfahren vorgelegte, undatierte Vollmacht, die u. a. zur Vertretung in Steuerangelegenheiten vor allen Gerichten ermächtigt, vermag dem Senat nicht die für einen Nachweis notwendige Sicherheit zu geben, daß X zur Einleitung und Durchführung des Klageverfahrens im Streitfall und damit zur Erhebung der vorliegenden Revision bevollmächtigt ist.
Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß für eine im Veranlagungsverfahren vorgelegte Vollmacht, die auch zur Führung von Prozessen ermächtigt, § 81 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 155 FGO nicht gilt. Sie ist nach § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auch vom Gericht vielmehr so auszulegen, wie sie vom Empfänger -- hier von X -- unter Berücksichtigung aller ihm bekannten Umstände zu verstehen war (BFH-Urteil vom 10. August 1976 VII R 95/75, BFHE 119, 391, BStBl II 1976, 689). Aber auch für Fälle, in denen der Prozeßbevollmächtigte eine ihm im Rahmen eines steuerlichen Beratungsverhältnisses erteilte Vollmacht durch Anheften an einen Schriftsatz im Klageverfahren oder in sonstiger Weise für ein Klageverfahren konkretisiert und dort vorlegt, hat der Senat im Urteil in BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726 entschieden, daß diese Konkretisierung auf ein bestimmtes Klageverfahren nur in dem Rahmen erfolgen darf, wie der Prozeßbevollmächtigte hierzu intern unter Beachtung des § 133 BGB ermächtigt ist. Nur eine in diesem Rahmen für das Klageverfahren vorgelegte Vollmacht wird zu einer umfassenden Prozeßvollmacht i. S. des § 81 ZPO i. V. m. § 155 FGO für den konkreten Rechtsstreit.
Eine im Veranlagungsverfahren unterschriebene Vollmacht, die auch zur Prozeßführung ermächtigt, kann daher nicht ohne weiteres als Dauerprozeßvollmacht für alle möglichen, völlig ungewöhnlichen und für den Steuerpflichtigen daher nicht vorhersehbaren Klagen oder Verfahrensabschnitte verstanden werden (Senatsurteil in BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726). Ein Steuerpflichtiger, der eine solche Vollmacht unterschreibt, muß zwar davon ausgehen, daß der Bevollmächtigte aufgrund dieser Vollmacht Prozesse (z. B. Anfechtungsklagen gegen Steuerbescheide usw.) evtl. auch bis hin zum BFH führt. Er kann und braucht aber nicht damit zu rechnen, daß der Bevollmächtigte ohne eine erneute Vollmacht so ungewöhnliche Prozesse wie im Streitfall mit einem derart hohen Prozeßrisiko (schon im verfahrensrechtlichen Bereich) anstrengt. So umfassend kann der Prozeßbevollmächtigte daher die Vollmacht in der Regel auch nicht verstehen. Auch aus der Sicht des Gerichts, das diese im Veranlagungsverfahren vorgelegte Vollmacht zu beurteilen hat, kann sie daher nicht so umfassend ausgelegt werden.
Der X. Senat des BFH hat in der Entscheidung in BFH/NV 1995, 713 bereits bei den erwähnten zahlreichen von X angestrengten Untätigkeitsklagen berechtigte Zweifel anerkannt, daß eine Vollmacht auch solche Verfahren abdecke. Der Senat kann offenlassen, ob er dieser Rechtsprechung folgen kann. Bei dem noch ungewöhnlicheren Verfahren des Streitfalls hält er die im Veran lagungsverfahren vorgelegte Vollmacht jedenfalls nicht mehr für ausreichend.
e) Die Zweifel des Senats daran, ob X für das vorliegende Revisionsverfahren eine ordnungsgemäße Vollmacht hat, hätten nur durch die Vorlage einer neuen, von der Klägerin selbst auf das Verfahren bezogenen Vollmachtsurkunde ausgeräumt werden können. X hat trotz Aufforderung keine auf ihn lautende Vollmacht eingereicht. Das Rechtsmittel ist nach den vorstehenden Grundsätzen als unzulässig zu verwerfen.
3. Die Kosten des Verfahrens sind dem als vollmachtsloser Vertreter aufgetretenen X aufzuerlegen (s. hierzu schon den Senatsbeschluß vom 19. April 1968 III B 85/67, BFHE 92, 173, BStBl II 1968, 473).
Fundstellen
Haufe-Index 421387 |
BFH/NV 1996, 823 |