Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkung der Neufassung des § 233a Abs. 1 AO 1977 (Zinsen bei Entstehung eines „Unterschiedsbetrages“) nicht verfassungswidrig
Leitsatz (NV)
Es verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot, dass § 233a Abs. 1 AO 1977 n.F., demzufolge die Festsetzung von Zinsen nicht mehr an eine Steuernachforderung, sondern an die Entstehung eines "Unterschiedsbetrages" anknüpft, auf alle Fälle anwendbar ist, die bei Inkrafttreten der Neufassung anhängig waren.
Normenkette
AO 1977 § 233a Abs. 1, 3; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob trotz freiwilliger Zahlung der Einkommensteuer 1993 vor der Veranlagung im Jahre 1995 Zinsen zur Einkommensteuer festgesetzt werden konnten.
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) gaben ihre Einkommensteuererklärung für 1993 am 25. Juli 1995 ab. Am 4. September 1995 zahlten sie 46 000 DM auf die voraussichtliche Einkommensteuerschuld. Mit Bescheid vom 26. September 1995 setzte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) die nach Verrechnung mit Kapitalertrag- und Zinsabschlagsteuer verbleibende Steuerschuld auf 73 308 DM fest. Bei Vorauszahlungen in Höhe von 27 876 DM ergab sich ein Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 45 432 DM. Aufgrund der freiwilligen Zahlung vom 4. September 1995 kam es zu einer Erstattung von 568 DM.
Das FA setzte auf der Grundlage des Unterschiedsbetrages in Höhe von abgerundet 45 400 DM für die Zeit vom 1. April bis 1. September 1995 Nachzahlungszinsen in Höhe von 1 135 DM fest.
Hiergegen legten die Kläger am 6. Oktober 1995 Einspruch ein, den sie damit begründeten, dass nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. März 1995 I R 56/93 (BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490) keine Zinsen anfallen dürften, wenn es zu keiner Steuernachforderung komme.
Mit Einspruchsentscheidung vom 9. Mai 1997 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Das FA stützte seine Entscheidung auf die durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1997 geänderte Fassung des § 233a Abs. 1 AO 1977, derzufolge die Zinspflicht eintritt, sofern ein Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 3 AO 1977 ―nicht, wie bisher, eine Steuernachforderung― entsteht.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, die auf Divergenz und grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützt ist.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist ―sofern nicht unzulässig― so doch jedenfalls unbegründet.
Die Gründe, auf die eine Nichtzulassungsbeschwerde zulässigerweise gestützt werden kann, ergeben sich im Streitfall noch aus der Finanzgerichtsordnung (FGO) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung. Gemäß Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) richtet sich die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine gerichtliche Entscheidung nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften, wenn die Entscheidung vor dem 1. Januar 2001 verkündet oder von Amts wegen anstelle einer Verkündung zugestellt worden ist. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist am 12. Oktober 2000 verkündet worden.
1. Die Zulassung der Revision kann nicht auf die grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO a.F.) der von den Klägern aufgeworfenen Rechtsfrage gestützt werden.
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache muss in der Beschwerdebegründung dargelegt werden. Ausführungen mit dem Inhalt, die Rechtsfragen seien noch ungeklärt, reichen dazu nicht aus. Es sind vielmehr grundsätzlich Ausführungen dazu erforderlich, aus welchen Gründen, in welchem Umfang und von welcher Seite die Rechtsfragen umstritten sind (BFH-Beschluss vom 21. November 1989 VII S 10/89, BFH/NV 1990, 585).
An einer solchen Darlegung fehlt es im Streitfall.
a) Auch die Beschwerdebegründung geht davon aus, dass nach einhelliger Auffassung im Schrifttum die durch das Urteil in BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490 begründete Rechtsprechung des BFH zu § 233a Abs. 1 AO 1977 a.F. durch die Neufassung dieser Vorschrift obsolet geworden ist (Suhrbier-Hahn, Deutsches Steuerrecht ―DStR― 1997, 389; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Tz. 10; Schwarz, Abgabenordnung, § 233a Rdnr. 22 b; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Rz. 18). Denn die Festsetzung von Zinsen knüpft nicht mehr an eine "Steuernachforderung" oder eine "Steuererstattung" an. Anknüpfungspunkt ist vielmehr nach § 233a Abs. 1 AO 1977 n.F. die Entstehung eines Unterschiedsbetrages i.S. von § 233a Abs. 3 AO 1977. Dies ist auch im Streitfall zu beachten, da die Neufassung des § 233a Abs. 1 AO 1977 gemäß Art. 97 § 1 Abs. 6 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977), der durch Art. 20 Nr. 1 JStG 1997 angefügt worden ist, auf alle bei In-Kraft-Treten des § 233a AO 1977 n.F. am 28. Dezember 1996 anhängigen Verfahren anzuwenden ist.
b) Nach ebenso einhelliger Auffassung bestehen gegen die Anwendung der Neuregelung auf vor ihrem In-Kraft-Treten verwirklichte Sachverhalte keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Ob die Änderung des § 233a Abs. 1 AO 1977 nur klarstellende Bedeutung hat (so der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags, BTDrucks 13/5952 vom 5. November 1996, S. 117; Suhrbier-Hahn, a.a.O.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 233a AO 1977 Tz. 10; Ruban, a.a.O., Rz. 19) oder zu einer inhaltlichen Änderung der Vorschrift geführt hat, kann dahinstehen. Denn auch soweit § 233a Abs. 1 AO 1977 n.F. gemäß Art. 97 § 1 Abs. 6 EGAO 1977 auf alle bei In-Kraft-Treten dieser Vorschrift anhängigen Verfahren anzuwenden ist, verstößt dies nicht gegen das Rückwirkungsverbot.
Auch in Fällen echter Rückwirkung ist das Vertrauen des Bürgers auf die Verlässlichkeit des Rechts dann nicht schutzwürdig, wenn das Recht unklar und verworren ist. In solchen Fällen darf der Gesetzgeber die Rechtslage rückwirkend klären (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 4. Mai 1960 1 BvL 17/57, BVerfGE 11, 64; Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 20 Rdnr. 1637). Dies ist im Fall des § 233a Abs. 1 AO 1977 durch die Ersetzung des Tatbestandsmerkmals "Steuernachforderung" bzw. "Steuererstattung" durch das Tatbestandsmerkmal "Unterschiedsbetrag" geschehen. Mit der Neufassung des § 233a Abs. 1 AO 1977 hat der Gesetzgeber den durch die Rechtsprechung des BFH verursachten Zustand der Rechtsunsicherheit beseitigt. Die Rechtsunsicherheit war dadurch entstanden, dass der BFH meinte, die auch von ihm erkannte Absicht, die Verzinsung nach dem Sollprinzip auszustatten, sei in der ursprünglichen Fassung des § 233a Abs. 1 AO 1977 nicht genügend zum Ausdruck gekommen (insbesondere BFH-Urteil in BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490). Der BFH sah damals auch die Ungereimtheiten, die sich aus seiner Entscheidung ergaben. Sie traten zum einen dann zutage, wenn sich trotz einer freiwilligen Leistung eine nur geringfügige Steuernachforderung ergab. In diesen Fällen war gleichwohl der Unterschiedsbetrag zu verzinsen. Zum anderen unterblieb eine Verzinsung ganz, wenn die freiwillige Zahlung erst kurz vor Erlass des Steuerbescheides geleistet wurde. Aus diesem Grund hatte die Finanzverwaltung bereits kurz nach Bekanntwerden des BFH-Urteils einen sog. Nichtanwendungserlass vom 24. Juli 1995 (BStBl I 1995, 370) veröffentlicht, der durch das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 4. April 1996 (BStBl I 1996, 371) bestätigt wurde. Auch in der Rechtsprechung der FG war die Rechtsprechung des BFH keinesfalls unumstritten (z.B. Hessisches FG, Urteil vom 27. März 1996 6 K 4660/92, Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1996, 1141).
Die Rechtsprechung des BFH zu § 233a Abs. 1 AO 1977 a.F. hatte demnach gerade das Ziel, eine Klarstellung des Gesetzgebers herauszufordern. Unter diesen Umständen mussten die Steuerpflichtigen damit rechnen, dass die klarstellende Regelung alle noch offenen Verfahren erfassen wird.
Mit der einhelligen Auffassung im steuerrechtlichen Schrifttum stimmt auch das Urteil des FG Schleswig-Holstein vom 10. Dezember 1997 II 892/97 (EFG 1998, 619) überein. Es hat in der Rechtsprechung der FG keinen Widerspruch gefunden. Insbesondere vertritt entgegen der Beschwerdebegründung das Niedersächsische FG in seinem Urteil vom 3. September 1997 II 397/94 (EFG 1998, 347) keine andere Auffassung. Das Niedersächsische FG hat lediglich entschieden, dass sich die Übergangsregelung des Art. 97 EGAO 1977 nur auf die Abwicklung von Verwaltungsverfahren beziehe. Die materielle Rückwirkung der neuen Gesetzesfassung beschränke sich daher auf die noch offenen Verwaltungsverfahren, erfasse aber nicht die noch offenen Finanzgerichtsverfahren.
c) Die Frage, ob im Streitfall die Anwendung des § 233a Abs. 1 AO 1977 n.F. nur deshalb möglich war, weil das FA den Abschluss des Einspruchsverfahrens in unzulässiger Weise hinausgezögert hat, hat keine grundsätzliche, d.h. eine Vielzahl anderer Fälle betreffende, Bedeutung.
2. Die geltend gemachte Divergenz zum BFH-Urteil vom 26. Januar 2000 IX R 11/96 (BFH/NV 2000, 1177) ist nicht in zulässiger Weise dargetan.
In der Beschwerdebegründung wird kein tragender Rechtssatz des FG-Urteils herausgearbeitet, der einem tragenden Rechtssatz des angeblichen Divergenzurteils widerspricht (vgl. hierzu die ständige Rechtsprechung seit BFH-Beschluss vom 30. März 1983 I B 9/83, BFHE 138, 152, BStBl II 1983, 479; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 115 Rdnr. 17, 63, m.w.N.). Die Behauptung, der Streitfall und der Sachverhalt der angeblichen Divergenzentscheidung seien gleichgelagert, genügt für eine schlüssige Divergenzrüge nicht (BFH-Beschluss vom 24. März 1995 V B 100/94, BFH/NV 1995, 908). Die Kläger weisen selbst darauf hin, dass die Divergenz nur dann bestünde, wenn § 233a Abs. 1 AO 1977 n.F. auf vor In-Kraft-Treten des JStG 1997 verwirklichte Sachverhalte nicht anwendbar wäre. Zu dieser Frage hat sich das angebliche Divergenzurteil aber nicht geäußert.
Fundstellen
BFH/NV 2001, 1375 |
DStR 2001, 1888 |
DStRE 2001, 1252 |