Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen den Inhalt der Akten; Nachweis der Bevollmächtigung
Leitsatz (NV)
1. Ein Verstoß gegen §96 Abs. 1 FGO liegt nicht nur vor, wenn das FG die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze übergeht, sondern auch dann, wenn das FG rechtsfehlerhaft die eingereichten Schriftsätze nicht dem betreffenden Verfahren zuordnet und damit von vornherein eine Auswertung des Beteiligtenvorbringens verhindert. Dies gilt insbesondere dann, wenn das FG zwei vom Prozeßbevollmächtigten im Klageverfahren vorgelegte Originalvollmachten dem Nebenverfahren zuordnet, eine Vollmacht dem HZA übersendet und auf diese Weise verhindert, daß die andere Vollmacht dem Hauptsacheverfahren zugeordnet werden kann.
2. Wird im AdV-Verfahren eine Vollmacht vorgelegt, bedarf es keiner erneuten Vorlage einer Vollmacht im Hauptsacheverfahren, wenn im konkreten Fall der jederzeitige Zugriff auf die Vollmacht gesichert ist und diese erkennen läßt, daß sie ihrem Inhalt nach auch das Klagebegehren umfaßt (BFH-Urteil vom 23. Juli 1997 -- X R 125/96, BFH/NV 1998, 58).
Normenkette
FGO §§ 62, 96 Abs. 1
Tatbestand
I. Namens der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhob der jetzige Prozeßbevollmächtigte Klage gegen die Bescheide vom ... September 1996, mit denen der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt -- HZA --) gegen die Klägerin Einfuhrabgaben und Hinterziehungszinsen festgesetzt hatte. Daneben beantragte der Prozeßbevollmächtigte namens der Klägerin beim Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der angefochtenen Bescheide (Verfahren 6 V ... ).
In beiden Verfahren, die bei demselben Senat des FG anhängig waren und von demselben Berichterstatter bearbeitet wurden, setzte der Senatsvorsitzende in getrennten Verfügungen vom 22. Juli 1997 unter Hinweis auf §62 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eine Ausschlußfrist zur Vorlage einer schriftlichen Originalvollmacht bis zum 10. September 1997. Daraufhin gingen am 30. Juli 1997 beim FG zwei Prozeßvollmachten im Original ein, von denen eine am 1. August 1997 dem HZA im Schriftsatzaustausch übersandt wurde. Die andere Vollmacht nahm das FG zur AdV-Akte. Die bei dieser Akte befindliche Vollmacht ist in Sachen "Eurozoll, Einfuhrumsatzsteuer und Abschöpfungszoll 1993 sowie Zinsbescheide 1993--1995" einschließlich aller Nebenverfahren in Sachen X-GmbH gegen HZA dem Steuerberater A erteilt worden. Die Prozeßvollmachten sind mit einem an das FG gerichteten Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten vom 28. Juli 1997 in der Sache ... "Klage der X-GmbH ... gegen Hauptzollamt ... wegen Aktenzeichen: 6 V ... Bescheid über Eurozoll, Einfuhrumsatzsteuer und Abschöpfungszoll 1993 sowie Zinsbescheide 1993--1995" ... eingereicht worden.
Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten beendete das FG nach Abhilfe durch das HZA mit Kostenbeschluß nach §138 Abs. 1 FGO das AdV-Verfahren. Die Klage wurde mangels Vorlage einer Prozeßvollmacht durch Prozeßurteil abgewiesen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das FG hätte zumindest eine der beiden vorgelegten Vollmachten dem Hauptsacheverfahren zuordnen müssen. Aus dem Anschreiben des Prozeßbevollmächtigten vom 28. Juli 1997 gehe eindeutig hervor, daß die Vollmacht auch zum Klageverfahren eingereicht worden sei.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG durfte die gegen die Festsetzung von Einfuhrabgaben und Hinterziehungszinsen gerichtete Klage nicht als unzulässig abweisen, denn die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 28. Juli 1997 eine Vollmacht für das Hauptsacheverfahren eingereicht, die vom FG zu beachten war.
1. Nach §96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Hierzu gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten einschließlich der von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze. Läßt das Gericht eine nach Aktenlage klar feststehende Tatsache unberücksichtigt oder geht es vom Nichtvorliegen dieser Tatsache aus, verstößt es unter Verletzung des §96 Abs. 1 FGO gegen den klaren Inhalt der Akten (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 9. Mai 1996 V R 24/95, BFH/NV 1997, 36). Ein Verstoß gegen §96 Abs. 1 FGO liegt allerdings nicht nur vor, wenn das FG die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze übergeht, sondern auch dann, wenn das FG rechtsfehlerhaft die eingereichten Schriftsätze nicht dem betreffenden Verfahren zuordnet und damit von vornherein eine Auswertung des Beteiligtenvorbringens verhindert.
Aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 28. Juli 1997 und dem Schreiben des FG vom 1. August 1997 an das HZA ergibt sich, daß das FG im Schriftsatzaustausch eine Originalvollmacht dem HZA zugesandt hat. Die andere Vollmacht hat es zur Akte im Verfahren 6 V ... (AdV-Akte der betreffenden Einfuhrabgaben) genommen. Das FG hat durch diese Handhabung verhindert, daß eine der beiden Originalvollmachten, die sich jeweils als umfassende Prozeßvollmacht darstellen, dem Hauptsacheverfahren zugeordnet werden konnte, und hat damit im Ergebnis nicht nach dem Inhalt der eigentlich vorliegenden Akten entschieden.
Soweit aufgrund der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. u. a. Urteil vom 5. Mai 1994 VI R 98/93, BFHE 174, 208, BStBl II 1994, 806) zur Bekanntgabe von Änderungsbescheiden während des finanzgerichtlichen Verfahrens eine Benachrichtigung des HZA über die Vorlage einer Vollmacht durch den Bevollmächtigten in Betracht kommt, erfordert weder dies noch die Verpflichtung zum Schriftsatzaustausch nach §77 Abs. 1 FGO, daß dem HZA die eingereichte Vollmacht im Original zu übermitteln ist.
Für die Auffassung, es sei im Hauptsacheverfahren keine Vollmacht vorgelegt worden, kann sich das FG nicht darauf berufen, daß die Klägerin im Begleitschreiben bei der Vollmachtsvorlage auf das AdV-Aktenzeichen Bezug genommen hat. Denn die übrigen Angaben auf dem Begleitschreiben lassen nur den Schluß zu, daß die Klägerin sowohl den im Hauptsache- als auch im AdV-Verfahren gesetzten Ausschlußfristen zur Vorlage einer Vollmacht nachkommen wollte. Dies läßt sich der Formulierung des Schreibens als "Klage"-Sache wegen "Bescheid über Eurozoll, Einfuhrumsatzsteuer und Abschöpfungszoll 1993 sowie Zinsbescheide 1993--1995" entnehmen. Das FG hat daher seine Entscheidung, die auf der Nichtberücksichtigung der Vollmacht beruht, gegen den Inhalt der Akten getroffen.
Schließlich wäre die Klage auch dann nicht als unzulässig abzuweisen gewesen, wenn die Originalvollmachten aufgrund des Begleitschreibens tatsächlich nur im AdV-Verfahren eingereicht worden wären. Der in §62 FGO geforderte Nachweis der Vorlage einer Vollmacht ist zwar grundsätzlich dem zuständigen Spruchkörper gegenüber und für jedes Verfahren gesondert zu erbringen. Die Bezugnahme auf die in einem anderen Verfahren eingereichte Vollmacht genügt nur dann, wenn sie für den Spruchkörper, der den Nachweis von Amts wegen zu prüfen hat, ohne weiteres greifbar ist (st. Rspr., vgl. u. a. BFH-Beschluß vom 29. Juli 1996 III B 267/95, BFH/NV 1996, 924). Die gesonderte Vorlage und Bezugnahme kann entbehrlich sein, wenn im konkreten Fall der jederzeitige Zugriff auf die Vollmacht gesichert ist. Solche Umstände sind in einem Klageverfahren gegeben, wenn im daneben beim selben Spruchkörper anhängigen AdV-Verfahren rechtzeitig, d. h. innerhalb der für beide Verfahren gleichzeitig ablaufenden Ausschlußfristen, eine -- beide Verfahren umfassende -- Vollmacht vorgelegt wird (vgl. BFH-Urteil vom 23. Juli 1997 X R 125/96, BFH/NV 1998, 58). Das FG hätte daher, wenn das Begleitschreiben eindeutig auf das AdV-Verfahren Bezug genommen hätte, erkennen müssen, daß die rechtzeitig eingereichten Vollmachten ihrem Inhalt nach auch das Klageverfahren umfaßten.
2. Da das FG -- aus seiner Sicht zu Recht -- keine Feststellungen zur Sache getroffen hat, ist dem Senat eine Entscheidung nach §126 Abs. 3 Nr. 1 FGO verwehrt (§118 Abs. 2 FGO). Die zur Prüfung der Begründetheit der Klage erforderliche Sachaufklärung und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide sind im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
Fundstellen