Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Zur Auslegung des Begriffs "Leibrente" in § 10 Abs. 1 und § 22 Ziff. 1 a EStG.
Eine Schadensersatzrente aus § 844 BGB ist keine Leibrente im Sinne von § 10 Abs. 1 EStG, sondern eine dauernde Last, die der Leistende deshalb nicht nur mit dem Ertragsanteil, sondern unbeschränkt als Sonderausgaben absetzen kann.
Normenkette
EStG § 10 Abs. 1 Ziff. 1, § 22/1
Tatbestand
Der Bg. verschuldete im Jahre 1953 den Tod eines Postangestellten, der eine Frau und zwei Kinder hinterließ. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) zahlte den Hinterbliebenen Witwen- und Waisenrenten. In der notariellen Urkunde vom 16. Juli 1956 erkannte der Bg. an, der BfA zum Ersatz ihrer bisherigen und weiteren Leistungen verpflichtet zu sein. Die Zahlungen an die Witwe laufen bis zum 31. Juli 1985 und an die Kinder bis Ende 1964 und 1965. Der Bg. zahlte an die BfA im Jahre 1957 1.152 DM und im Jahre 1958 2.444 DM, die er als Sonderausgaben abziehen will. Das Finanzamt ließ nur den Ertragsanteil im Sinne des § 22 Ziff. 1 a EStG 1957/1958 zum Abzug zu.
Das Finanzgericht gab der Berufung statt und erkannte die Zahlungen des Bg. voll als dauernde Lasten an. Es verneinte, daß eine Leibrente vorliege, weil kein selbständiges Rentenstammrecht bestehe.
Mit der Rb. rügt der Vorsteher des Finanzamts unrichtige Rechtsanwendung. Er macht geltend, Renten, die auf Grund von § 844 BGB geschuldet würden, seien Leibrenten.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist nicht begründet.
Nach § 10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG 1957/1958 sind die auf besonderen Verpflichtungsgründen beruhenden Renten und dauernden Lasten unter bestimmten Voraussetzungen Sonderausgaben. Bei Leibrenten kann der Geber seit 1. Januar 1955 nach § 10 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 22 Ziff. 1 a EStG nur noch den Ertragsanteil als Sonderausgaben abziehen. Für dauernde Lasten gilt dagegen diese Einschränkung nicht; sie können in vollem Umfang als Sonderausgaben abgesetzt werden.
Das Finanzgericht hat - entgegen der Auffassung des Finanzamts - die Zahlungen des Bg. nicht als Leibrenten gewürdigt. Dem ist zuzustimmen. In der Entscheidung VI 105/61 U vom 29. März 1962 (BStBl 1962 III S. 304, Slg. Bd. 75 S. 96) hat der Senat zum Begriff "Leibrente" in § 10 Abs. 1 Ziff. 1 und § 22 Ziff. 1 a EStG ausgeführt, daß wenn in Steuergesetzen Begriffe verwendet werden, die im bürgerlichen Recht einen bestimmten Inhalt haben, sie steuerrechtlich wegen der Einheit der Rechtsordnung und im Interesse der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit ebenso auszulegen sind, sofern sie nicht nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers im Steuerrecht anders aufzufassen sind. Der Senat hat deshalb den Begriff Leibrente im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs bestimmt als ein einheitliches nutzbares Recht, das dem Berechtigten für die Lebensdauer eines Menschen eingeräumt ist, und dessen Erträge aus fortlaufend wiederkehrenden gleichmäßigen Leistungen in Geld oder vertretbaren Sachen bestehen".
Auf Grund von § 844 Abs. 2 BGB hatten die Hinterbliebenen gegenüber dem Bg. einen Schadensersatzanspruch, der "durch Entrichtung einer Geldrente" zu erfüllen ist. Es handelt sich um einen echten Schadensersatzanspruch, nicht um einen Unterhaltsanspruch (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen - RGZ - Band 74 S. 274). Da die BfA nach §§ 589, 590, 595 der Reichsversicherungsordnung (RVO) an die Hinterbliebenen eine Witwen- und Waisenrente gezahlt hatte, gingen die Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen gegen den Bg. gemäß § 1542 RVO auf die BfA über. Durch diesen übergang ändert sich das Wesen des Anspruchs als Schadensersatzanspruch nicht.
Die gegenwärtige Streitfrage, ob die aus § 844 BGB geschuldete Rente eine "Leibrente" ist, ist ebenfalls nach bürgerlichen Recht zu beurteilen. Dort wird sie allerdings nicht einheitlich beantwortet. Eine Leibrente nehmen z. B. an Enneccerus-Lehmann (Recht der Schuldverhältnisse, 15. Bearbeitung, 1958, S. 774); Soergel-Siebert (Kommentar zum BGB, 9. Auflage, 1962, vor § 759 Anm. 8; in der unmittelbar vorausgehenden Anm. 7 wird die Frage aber offenbar verneint). Keine Leibrente nehmen z. B. an Planck (Kommentar zum BGB, 4. Auflage, 1928, vor § 759 unter III); Achilles-Greiff (Kommentar zum BGB, 21. Auflage, 1958, vor § 759); Kommentar von Reichsgerichtsräten und Bundesrichtern zum BGB (11. Auflage, 1960, § 759 Anm. 7); Palandt (Kommentar zum BGB, 24. Auflage, 1965, § 759 Anm. 2 c). Das Reichsgericht hat eine Leibrente verneint. Im RGZ Band 89 S. 259 hatte es über Ansprüche aus §§ 825 und 847 BGB zu entscheiden, zu deren Abfindung eine lebenslängliche Geldrente zugesagt war. Es führte aus: Grundlage für die Ansprüche der Klägerin sei, daß durch die Abrede ein aus unerlaubter Handlung hergeleiteter Schadensersatzanspruch geregelt werde. Während bei Leibrentenverträgen die rechtliche Bedeutung der Einzelbezüge sich durch die Nutzung eines besonderen Rentenrechts erschöpfe, blieben hier die Einzelbezüge zufolge ihrer gesetzlichen Grundlage Schadensersatz aus unerlaubter Handlung. Ebenso hat das Oberlandesgericht Hamburg ("Recht" 1916 Nr. 1106) entschieden. Dieser Rechtsauslegung tritt der Senat bei. Sie gilt besonders für die Fälle, in denen die Rentenform des Schadensersatzes nicht, wie in den erwähnten Urteilen der Zivilgerichte auf einem Vertrag, sondern unmittelbar auf dem Gesetz beruht.
Bei einer Schadensrente nach § 844 Abs. 2 BGB fehlt es an einem selbständigen Rentenstammrecht, das nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte unlösbare Grundlage einer Leibrente ist. Die einzelnen Zahlungen müssen Erträge dieses Rentenstammrechts sein und dürfen von dem rechtlichen und wirtschaftlichen Hintergrund des Stammrechts nur noch mittelbar abhängen. In der Gewährung des Rentenstammrechts liegt schon der erste Erfüllungsakt, der dann seinerseits neue Ansprüche in Form der einzelnen Rentenleistungen schafft (RGZ Band 67 S. 210, 211). Bei Schadensersatzleistungen aus § 844 BGB beruht aber jede einzelne Zahlung unmittelbar auf dieser gesetzlichen Vorschrift und ist unmittelbare Schadensersatzleistung. Jede Rentenrate dient unmittelbar der Erfüllung des durch den § 844 BGB begründeten Ersatzanspruchs. Wenn die Rente in Kapital abgefunden wird, sei es auf begründetes Verlangen des Geschädigten nach § 843 Abs. 3 BGB, sei es auf Vereinbarung der Beteiligten, so handelt es sich nur um einen rechnerischen Vorgang, dessen wesentlicher Inhalt Zinsrechnungen sind. Gegenstand der Ablösung ist aber auch dann nicht ein zwischen den ursprünglichen Zahlungsgrund und die Einzelzahlung getretenes selbständiges Rentenstammrecht, sondern der durch eine Geldrente zu erfüllende Schadensersatzanspruch aus § 844 BGB. Durch die notarielle Beurkundung vom 16. Juli 1956 ist im übrigen die Rechtslage nicht geändert worden. Die Urkunde sollte nur der BfA gegen den Bg. einen vollstreckbaren Titel schaffen (§ 794 Abs. 1 Ziff. 5 der Zivilprozeßordnung).
Ist demnach die Schadensrente aus § 844 BGB keine Leibrente, so kann der Bg. die Zahlungen als dauernde Last ungekürzt als Sonderausgaben abziehen, wie das Finanzgericht zutreffend angenommen hat.
Beim Streitwert war zu berücksichtigen, daß das Finanzamt im Berufungsverfahren seinen Antrag im Sinne der §§ 28, 25 EStDV 1957/1958 gegenüber der Veranlagung eingeschränkt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 411606 |
BStBl III 1965, 359 |
BFHE 1965, 312 |
BFHE 82, 312 |
StRK, EStG:10/1/1 R 70 |