Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Berücksichtigung einer Aufrechnungserklärung im Stundungs- oder Beitreibungsverfahren.
Zur Aufrechnung des Steuerpflichtigen mit Gegenforderungen, wenn die Aufrechnungslage vor dem 9. Mai 1945 bestanden hat.
Normenkette
AO §§ 121, 125, 127; BeitrO § 33
Tatbestand
Der Beschwerdeführer (Bf.) ist von Beruf Bauunternehmer. Er schuldet dem Finanzamt an Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Gewinnabführungsbeträgen aus den Veranlagungszeiträumen 1943 und 1944 noch den Betrag von 11.403 DM (= 114.030 RM), nachdem die ursprüngliche Abgabenschuld in Höhe von 170.905 RM auf Grund einer vom Finanzamt durchgeführten Verrechnung bis auf den vorbezeichneten Restbetrag getilgt ist.
Andererseits stehen dem Bf. Forderungen gegen das ehemalige Deutsche Reich in einem Gesamtbetrage von 173.219,01 RM zu, die in dieser Höhe vom Landesamt für Vermögenskontrolle durch Abrechnungsprotokolle vom 2. Februar 1951 und vom 6. April 1951 anerkannt sind.
Bevor die wegen der obigen Abgabenforderungen dem Bf. gewährte und wiederholt - letztmalig bis 31. Dezember 1950 - verlängerte Stundung abgelaufen war, hatte der Bf. am 19. Dezember 1950 erneut den Antrag gestellt, diese Steuerrückstände über den vorerwähnten Zeitpunkt hinaus bis zur Kriegsschädenregulierung weiter zu stunden.
Das Finanzamt lehnte den Stundungsantrag des Bf. durch Verfügung vom 9. Januar 1951 ab und erklärte sich lediglich bereit, dem Bf. die Abtragung seiner Steuerschulden in angemessenen Teilzahlungen zu gestatten.
Die wegen der Versagung der Stundung an die Oberfinanzdirektion gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg. Obwohl der Bf. sich im Beschwerdeverfahren durch Schreiben vom 30. August 1951 ausdrücklich zur Abtretung der inzwischen vom Landesamt für Vermögenskontrolle anerkannten Forderungen bereit erklärt hatte, lehnte auch die Oberfinanzdirektion die Stundung in der beantragten Form durch Bescheid vom 27. September 1951 ab und verlangte vom Bf. die ratenweise Tilgung der Gesamtrückstände an Steuern.
In dem daraufhin eingeleiteten Berufungsverfahren machte der Bf. Aufrechnung mit seinen vom Landesamt für Vermögenskontrolle anerkannten Gegenforderungen geltend, erzielte aber auch in diesem Verfahren keinen Erfolg. Das Finanzgericht vertrat die Ansicht, daß es über die nach Ansicht der Vorinstanz erst nachträglich vom Bf. erklärte Aufrechnung nicht zu befinden habe und daß im übrigen ein Ermessensverstoß der Verwaltungsbehörden nicht festzustellen sei.
In der Rechtsbeschwerde hält der Bf. seinen Standpunkt in der Stundungsfrage aufrecht und widerspricht im übrigen den Ausführungen des Finanzgerichts, daß eine Aufrechnungserklärung von ihm, dem Bf., vor der Entscheidung der Oberfinanzdirektion vom 27. September 1951 nicht abgegeben worden sei, unter Hinweis auf den Inhalt seines Schreibens vom 30. August 1951.
Entscheidungsgründe
Der Rechtsbeschwerde ist stattzugeben; denn das Finanzgericht hätte nicht über das Stundungsbegehren des Bf. entscheiden dürfen, ohne zuvor auf die Frage der Zulässigkeit der vom Bf. erklärten Aufrechnung einzugehen.
Das Finanzgericht glaubte, von einer Erörterung der Aufrechnungsfrage absehen zu dürfen, weil über die erst nachträglich - gemeint ist wohl: erst im Berufungsverfahren - geltend gemachte Aufrechnung im ordentlichen Rechtsmittelverfahren gegen einen vorher beim Finanzamt zu erwirkenden Abrechnungsbescheid gemäß § 125 der Reichsabgabenordnung (AO) zu entscheiden wäre.
Diese Ausführungen sind schon insofern nicht unbedenklich, als das Finanzgericht ohne weiteres davon auszugehen scheint, der Bf. habe die Frage der Aufrechnung erst in der Berufungsinstanz zur Erörterung gebracht. Demgegenüber hat der Bf. nicht ohne Grund darauf hingewiesen, daß er bereits in seinem Schriftsatz vom 30. August 1951 die Abtretung der inzwischen anerkannten Kriegsschadensansprüche angeboten habe. Es ist dem Finanzgericht zuzugeben, daß dieses Angebot bei wörtlicher Auslegung nicht ohne weiteres einer Aufrechnungserklärung gleichgeachtet werden kann. Trotzdem hätte es zum mindesten nahe gelegen zu prüfen, ob nicht die Oberfinanzdirektion auf Grund dessen zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet gewesen wäre und ob sie nicht durch Rückfragen beim Steuerpflichtigen hätte feststellen müssen, was der eigentliche Sinn dieser Erklärung sei. Wahrscheinlich hätte sich schon dabei ergeben, daß der Bf. in Wirklichkeit seine Gegenforderungen zur Aufrechnung stellen wollte, zumal da er bereits in einem vorangegangenen Schreiben an das Finanzamt vom 3. August 1951 seine Aufrechnungsabsicht eindeutig zu erkennen gegeben hatte.
Aber auch wenn man von diesem Bedenken absieht, hätte das Finanzgericht nicht ohne weiteres an der Aufrechnungsfrage vorbeigehen dürfen.
Das Finanzgericht vertritt die Auffassung, daß über diese Frage erforderlichenfalls im ordentlichen Rechtsmittelverfahren gegen einen beim Finanzamt zu erwirkenden Abrechnungsbescheid gemäß § 125 AO zu entscheiden wäre, nicht aber in dem anhängigen Stundungsverfahren. An dieser vom Finanzgericht geäußerten Meinung ist soviel richtig, daß die endgültige gerichtliche Klärung, ob der Steueranspruch des Finanzamts durch Aufrechnung erloschen ist oder nicht, erforderlichenfalls im Wege des Abrechnungsverfahrens gemäß § 125 AO bzw. im Wege des Erstattungsverfahrens gemäß den §§ 150 ff. AO herbeizuführen ist. Das schließt aber nicht aus, daß auch im Rahmen anderer Verfahren mittelbar über die Frage der Aufrechnung mit entschieden werden muß, selbst wenn die Klärung der Frage im Wege des ordentlichen Rechtsmittelverfahrens noch nicht herbeigeführt worden ist.
So muß im Beitreibungsverfahren die Vollstreckungsstelle des Finanzamts - unbeschadet des § 327 AO - von Amts wegen die Frage prüfen, ob die zur Beitreibung gestellte Steuerforderung infolge Aufrechnung erloschen ist oder nicht. Diese Prüfung ist im § 33 Abs. 4 Satz 2 der Beitreibungsordnung (BeitrO) ausdrücklich vorgeschrieben; sie ist auch notwendig, weil im Falle der Rechtmäßigkeit der Aufrechnung die Vollstreckungsstelle von der Durchführung der Zwangsvollstreckung Abstand zu nehmen hat (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Anm. 25 d zu § 326 AO, Anm. 6 Abs. 3 zu § 327 AO). Fällt diese Prüfung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen aus, und wird die Aufrechnung vom Finanzamt für unzulässig erklärt, so ist der Steuerpflichtige befugt - unbeschadet des Rechts, seine Auffassung im ordentlichen Rechtsmittelverfahren zu vertreten -, auch im Vollstreckungsverfahren selbst durch Beschwerde gegen die Entscheidung des Finanzamt sein Aufrechnungsrecht geltend zu machen (vgl. §§ 237, 303 AO, § 33 Abs. 5 Satz 4 BeitrO).
Der III. Senat des Bundesfinanzhofs hat in dem nicht für die amtliche Veröffentlichung vorgesehenen, jedoch durch Abdruck in der Steuerrechtsprechung in Karteiform AO § 124, Rechtsspruch 3 (vgl. auch Deutsche Steuer-Rundschau - DStR - 1952 S. 63) der Allgemeinheit bekannt gewordenen Urteil III 38/50 vom 29. November 1951 ohne nähere Begründung (unter Bezugnahme auf Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Teil I, 1941 Anm. 6 Abs. 1 a. E. zu § 124) unter B I die Ansicht vertreten, daß § 33 Abs. 5 Satz 4 BeitrO durch die später erlassenen, jetzigen §§ 125, 235 Ziff. 6 AO gegenstandslos geworden sei. Dieser Auffassung des III. Senats vermag der erkennende Reichsabgabenordnungsenat sich nicht anzuschließen, da kein zwingender Grund ersichtlich ist, warum durch die Einführung des Abrechnungsbescheides im Sinne des § 125 AO die Möglichkeit, sich im Beschwerdeverfahren (§§ 237, 303 AO) gegen Maßnahmen der Zwangsvollstreckung auf zulässig erklärte Aufrechnung zu berufen, beeinträchtigt werden sollte (im Ergebnis übereinstimmend Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O. Anm. 6 Abs. 3 und Anm. 2 Abs. 2 a. E. zu § 327, sowie Riewald, Teil II, 1951 Anm. 5 Abs. 1 zu § 327). Vielmehr ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 125 AO, daß die Steuerpflichtigen einen zusätzlichen Rechtsbehelf erhalten sollten, der es ihnen ermöglichte, das Erlöschen einer Steuerforderung in einem besonderen Verfahren nachzuweisen. Damit erwarben die Steuerpflichtigen gegebenenfalls einen Schutz vor einer nochmaligen Einziehung der Steuerforderung, ohne diese selbst, wie es bisher der Fall gewesen war, abwarten zu müssen. Es trifft aber nicht zu, daß die Steuerpflichtigen nunmehr auf den Rechtsbehelf des § 125 AO beschränkt sein sollten. Sie können sich vielmehr auch der sonstigen, schon vor der Einführung des § 125 AO bestehenden Rechtsbehelfe und Rechtsmittel in der gleichen Weise bedienen wie vorher (vgl. dazu auch Reichstagsdrucksache Nr. 568 IV 1928 S. 215-216, wiedergegeben im Urteil des Reichsfinanzhofs IV A 289/32 vom 3. Mai 1933, Slg. Bd. 33 S. 146 f.).
Von ähnlicher Bedeutung ist die Frage der Aufrechnung aber auch für das Stundungsverfahren. Allerdings ist die Wirkung der Aufrechnung hier insofern eine andere, als im Falle rechtswirksamer Aufrechnung einer Stundung zugunsten des Steuerschuldners deshalb nicht mehr ausgesprochen werden kann, weil dann die Steuerforderung infolge der Aufrechnung erlischt. über bereits erloschene Forderungen kann aber nicht mehr verfügt werden, auch nicht durch Stundung zugunsten des Steuerpflichtigen.
Im Streitfalle hätte die Klärung der Aufrechnungsfrage keine besonderen Schwierigkeiten bereiten können. Da der Umstand, daß RM-Schuldverbindlichkeiten des Deutschen Reiches nach den Vorschriften des Umstellungsgesetzes (UmstG) von der Umstellung auf Deutsche Mark ausgeschlossen sind, die Aufrechnung gemäß dem Gutachten des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 1951 - Beschluß des Bundesgerichtshofs GSZ 1/51 vom 20. Juni 1951, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 2 S. 300 ff. - jedenfalls dann nicht hindert, wenn vor der Währungsumstellung eine Aufrechnungslage bestanden hat, so hätte das Finanzgericht nur prüfen müssen, ob im vorliegenden Falle eine solche Aufrechnungslage vor der Währungsreform gegeben war. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die beiderseitigen Forderungen - sowohl die Steuerforderungen des Reiches als auch die Ansprüche des Steuerpflichtigen - vor dem Zusammenbruch des Reiches im Jahre 1945 als Reichsmarkforderungen entstanden waren und daß damals auch Personengleichheit zwischen dem Reich als Schuldner der zur Aufrechnung gestellten Forderungen und dem Steuergläubiger bestanden hat. Daß seit 1945 die Steuerhoheit bezüglich der Einkommensteuer- und Gewinnabführungsansprüche auf das Land übergegangen ist, könnte nach dem Rechtsgedanken des § 406 BGB einer Aufrechnung gegen die damals bereits bestehenden Steueransprüche grundsätzlich nicht im Wege stehen. Auch hindert es die Aufrechnung nicht, daß die aus den Jahren 1943, 1944 stammenden Steuerforderungen erst sehr viel später festgesetzt worden sind. Denn nach der Entscheidung des I. Senats des Bundesfinanzhofs I 108/52 S vom 10. November 1953 - Bundessteuerblatt (BStBl.) 1954 III S. 26 -, der sich der II. Senat insoweit anschließt, kommt es für das Aufrechnungsrecht des Steuerpflichtigen nicht darauf an, ob der Steueranspruch, gegen den aufgerechnet werden soll, bereits festgesetzt oder fällig war, sondern nur darauf, daß er bereits entstanden war. Das letztere trifft im vorliegenden Falle für die Steueransprüche des Fiskus aus den Jahren 1943 und 1944 ohne weiteres zu, so daß das Bestehen einer Aufrechnungslage vor der Währungsumstellung zu bejahen wäre, sofern die zur Aufrechnung gestellten Forderungen schon damals, d. h. vor dem Zusammenbruch des Reiches, fällig gewesen sind. Diese Frage hätte noch vom Finanzgericht geklärt werden müssen, wobei auch zu erörtern gewesen wäre, ob es genügt, daß die Gegenforderungen des Bf. im Jahre 1951 vom Landesamt für Vermögenskontrolle anerkannt worden sind, ober ob es darüber hinaus noch der Feststellung bedarf, daß diese Forderungen schon im Zeitpunkt des Bestehens der Aufrechnungslage, d. h. vor dem Zusammenbruch des Jahres 1945, als unbestritten oder rechtskräftig festgestellt anzusehen gewesen wären (§ 124 AO). Dazu soll ausdrücklich bemerkt werden, daß die vom Bf. zur Aufrechnung gestellten Forderungen, sofern sie im Jahre 1951 ohne besondere Beanstandungen vom Landesamt für Vermögenskontrolle anerkannt worden sind, auch als im Jahre 1945 unbestritten gelten können.
Das Finanzgericht hat, obwohl die Möglichkeit dazu auch innerhalb des anhängigen Verfahrens bestand, die Zulässigkeit der vom Bf. erklärten Aufrechnung nicht geprüft. Es hat geglaubt, den Beteiligten selbst die Klärung dieser Frage im Rahmen eines besonderen Verfahrens nach § 125 AO überlassen zu müssen. Es soll nicht verkannt werden, daß gewisse Zweckmäßigkeitsgründe, insbesondere der Umstand, daß sonst dem Bf. bei Prüfung der Aufrechnungsfrage die Vorprüfung in den Verwaltungsinstanzen verlorengegangen wäre, es rechtfertigten, wenn das Finanzgericht nicht sofort über diese Frage selbst entschied. Das Finanzgericht hätte deshalb an das Finanzamt die Aufforderung richten können, zunächst gemäß § 33 Abs. 5 BeitrO eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Aufrechnung zu treffen; es hätte auch dem Bf. anheim geben können, zur Klärung der Aufrechnungsfrage ein Abrechnungsverfahren gemäß § 125 AO einzuleiten, und es hätte gegebenenfalls bis zur Klärung dieser Frage seine Entscheidung aussetzen können. Es war aber nicht angängig, daß das Finanzgericht über das Stundungsbegehren des Bf. eine sachliche Entscheidung traf, ehe über die Zulässigkeit der Aufrechnung entschieden war. Denn bei Bejahung der Zulässigkeit wäre das Stundungsbegehren des Bf. gegenstandslos geworden, weil das Erlöschen der Gegenforderungen des Finanzamts nach erklärter Aufrechnung eine weitere Verfügung über diese Gegenforderungen unmöglich machte. Bei wirksamer Aufrechnung wäre daher das Stundungsverfahren als in der Hauptsache erledigt zu betrachten, und es bliebe nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Dabei ist es gleichgültig, ob die Aufrechnung schon vor dem Finanzamt oder erst beim Finanzgericht erklärt worden ist.
Da das Finanzgericht diese aufgezeigten Gesichtspunkte nicht berücksichtigt und ohne vorherige Klärung der Rechtmäßigkeit der Aufrechnung sachlich über den Stundungsantrag des Bf. entschieden hat, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
Aus Zweckmäßigkeitsgründen geht die Sache unter gleichzeitiger Aufhebung der Beschwerdeentscheidung an die Oberfinanzdirektion zurück, die zunächst im Benehmen mit dem Finanzamt die Zulässigkeit der Aufrechnung zu klären und dann erst entsprechend dem Ergebnis dieser Prüfung entweder über den Stundungsantrag sachlich zu entscheiden hat oder sich auf eine Kostenentscheidung beschränken muß.
Fundstellen
Haufe-Index 408038 |
BStBl III 1954, 375 |
BFHE 1955, 432 |
BFHE 59, 432 |