Leitsatz (amtlich)
1. Auch eine einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer nur in deutscher Sprache erteilte schriftliche Rechtsmittelbelehrung setzt eine Rechtsbehelfsfrist in Gang.
2. Läßt der ausländische Adressat den ihm zugestellten und mit der schriftlichen Rechtsmittelbelehrung versehenen Steuerbescheid sechs Wochen lang liegen, ohne sich um eine Übersetzung zu bemühen, so ist ihm Nachsicht wegen der Versäumung der Einspruchsfrist nicht zu gewähren.
Normenkette
AO §§ 86, 237; GG Art. 3 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (HZA) dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) Nachsicht wegen Versäumung der Einspruchsfrist hätte gewähren müssen.
Das HZA erließ am 31. Januar 1975 einen Steuerbescheid gegen den Kläger über Zoll und Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von insgesamt rd. 5 700 DM. Dieser Bescheid wurde dem Kläger, der sich in Untersuchungshaft befand, am 4. Februar 1975 gegen Empfangsbescheinigung in der Vollzugsanstalt B zugestellt (§ 5 Abs. 1 VwZG).
Mit Schreiben vom 26. März 1975 - eingegangen am 27. März 1975 - legte der Kläger durch einen von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalt, der ihn auch in dem Untersuchungsverfahren vertrat, gegen den Steuerbescheid Einspruch ein. Mit einem weiteren Schriftsatz vom 22. April 1975 - eingegangen am 24. April 1975 - beantragte der Bevollmächtigte "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand".
Das FA gab dem als Antrag auf Gewährung von Nachsicht (§ 86 AO) anzusehenden Antrag nicht statt; den Einspruch verwarf es als unzulässig.
Mit der dagegen erhobenen Klage trug der Kläger vor, er sei Israeli, spreche kein Wort deutsch und könne die lateinische Schrift nicht lesen. Da er wegen des gegen ihn laufenden Strafverfahrens dauernd Post vom Gericht und der Staatsanwaltschaft erhalten habe, die er dann jeweils seinem Verteidiger bei dessen Besuchen übergeben habe, sei er mit dem Steuerbescheid entsprechend verfahren, zumal ihm nicht bewußt gewesen sei, daß außer einem Strafverfahren auch noch die Zahlung von Abgaben in Betracht käme. Da er nicht habe erkennen können, daß es sich um einen Steuerbescheid gehandelt habe, ihm dieser auch nicht übersetzt worden sei, liege hier ein Fall ähnlich der der höheren Gewalt vor, so daß Nachsicht hätte gewährt werden müssen.
Der Kläger beantragte, den Einspruchsbescheid aufzuheben und das HZA anzuweisen, über den Einspruch anderweitig zu entscheiden.
Das FG wies die klage als unbegründet ab. Es führte aus, der Kläger habe die Frist zur Einlegung des Einspruchs schuldhaft versäumt, so daß ihm Nachsicht mit Recht versagt worden sei. Dem in Untersuchungshaft einsitzenden Kläger sei bekannt gewesen, welche Vorwürfe gegen ihn erhoben worden seien, da er bereits vernommen gewesen sei und auch von seinem Verteidiger, dem Prozeßbevollmächtigten in diesem Verfahren, darüber aufgeklärt worden sein müsse. Dem Kläger sei folglich bewußt gewesen, daß die Schreiben, die er erhalten habe, von Bedeutung gewesen seien, insbesondere, wenn er ihren Empfang durch Unterschriftsleistung habe bestätigen müssen. Er hätte sich, falls er den Inhalt nicht verstanden habe, so schnell wie möglich über deren Bedeutung vergewissern müssen. Dazu habe er auch, da er von einem Anwalt vertreten worden sei, die Möglichkeit gehabt. Die Tatsache, daß er diese Möglichkeit nicht wahrgenommen und den Steuerbescheid nahezu sechs Wochen unbeachtet habe liegen lassen, schließe bereits eine Nachsichtgewährung aus. Hinzu komme, daß der Kläger, selbst wenn er im Zuge des Strafverfahrens eine Vielzahl von Schreiben erhalten habe, auch ohne Kenntnisse der deutschen Sprache und Schrift hätte erkennen können und müssen, daß es sich bei dem Schreiben, das sich schon durch den Briefkopf unterschieden habe, nicht um eines der üblichen Schreiben gehandelt haben könne. Hinzu komme ferner, daß sich in dem Bescheid eine Vielzahl von Zahlen befunden habe, die er habe lesen und deren Bedeutung, nämlich eine Berechnung, er habe verstehen können. Die Unkenntnis der deutschen Sprache allein rechtfertige eine Nachsicht nicht, auch wenn weder der Bescheid noch die Rechtsbehelfsbelehrung übersetzt worden sei, wie das BVerwG in dem Beschluß vom 14. August 1974 I B 3/74 (HFR 1975, 306) entschieden habe. Es möge zwar im Einzelfall etwas anderes gelten, wie man der vom Kläger angeführten, dem Senat nicht vorliegenden Entscheidung des BVerfG entnehmen könne; dort habe es sich aber offensichtlich um eine Wochen- und nicht um eine Monatsfrist gehandelt, und vor allem sei nicht ersichtlich, ob der Ausländer - wie der Kläger - durch einen Rechtsanwalt vertreten gewesen sei und für ihn überhaupt die Möglichkeit bestanden habe, innerhalb der Wochenfrist eine Übersetzung des Strafbefehls zu erlangen.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt, mit der er beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Hessischen FG vom 12. August 1975 VII 50/75 den Einspruchsbescheid vom 14. Mai 1975 aufzuheben und das beklagte HZA anzuweisen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Einspruch des Klägers gegen den Steuerbescheid vom 31. Januar 1975 Z 1490/S 1266 B - E 3 anderweitig zu entscheiden.
Zur Begründung trägt er vor, er habe nicht wissen können, daß es sich um einen Steuerbescheid gehandelt habe. Nachdem er durch seinen Bevollmächtigten sofort auf dessen Inhalt und Bedeutung hingewiesen worden sei, habe er den Bevollmächtigten sofort veranlaßt, alle möglichen rechtlichen Schritte gegen den Steuerbescheid zu unternehmen, was auch am Tage darauf bereits geschehen sei. Daraus ergebe sich, daß er, hätte er gewußt, worum es gegangen sei, sofort Einspruch eingelegt hätte. Die Tatsache allein, daß er Ausländer sei und weder die deutsche Sprache noch die lateinische Schrift beherrsche, dürfe ihm, wie das BVerfG in dem Beschluß vom 10. Juni 1975 2 BvR 1074/74 (NJW 1975, 1597) zum Ausdruck gebracht habe, nicht zum Nachteil gereichen. Das FG habe es nicht für nötig befunden, sich Kenntnis vom Wortlaut dieser Entscheidung des BVerfG zu verschaffen. Das angefochtene Urteil verstoße gegen Art. 3 Abs. 3 und 103 Abs. 1 GG. Der Vorwurf des FG, er habe sich nicht nachhaltig genug um eine Übersetzung bemüht, lasse außer Betracht, daß ihm der drohende Ablauf der Einspruchsfrist unbekannt gewesen sei.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Entscheidung hängt von der Beantwortung zweier Fragen ab, von denen das FG nur die eine behandelt hat, indem es entschied, daß dem Kläger mit Recht Nachsicht versagt worden sei. Der Frage, ob bei Versäumung einer Frist Nachsicht zu gewähren ist, ist aber die Frage vorgeschaltet, ob die Frist versäumt ist. Auch diese Frage ist jedoch zu bejahen. Der Senat stimmt deshalb dem FG im Ergebnis und in weiten Teilen auch in der Begründung zu.
1. Die Einspruchsfrist war in Gang gesetzt worden. Bedenken können nicht daraus hergeleitet werden, daß die dem Kläger schriftlich erteilte Rechtsmittelbelehrung nicht in eine ihm verständliche Sprache übersetzt wurde.
Da dem Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, braucht der Senat nicht zu der streitigen Frage Stellung zu nehmen, ob einem Bescheid, der - wie hier (vgl. § 57 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 3 ZG, § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes - Mehrwertsteuer - - UStG 1967 -) nicht schriftlich zu ergehen brauchte, aber schriftlich erging, eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt werden muß (vgl. §§ 237 Abs. 1 Satz 1, 229 Nr. 1 AO und das Urteil des BFH vom 1. Juli 1959 VII 10/59 U, BFHE 69, 247, BStBl III 1959, 355). Jedenfalls braucht diese schriftliche Belehrung einem Ausländer nicht in fremder Sprache erteilt zu werden. Deutsche Behörden bedienen sich, wie das für das gerichtliche Verfahren in § 184 GVG ausdrücklich vorgeschrieben ist, innerhalb ihres Hoheitsgebiets der deutschen Sprache als Amtssprache (vgl. BVerwG-Beschluß vom 14. August 1974 I B 3/74, HFR 1975, 306). Es ist ihnen auch nicht zuzumuten - wenn nicht gar unmöglich -, bei jeder Zustellung einer Entscheidung zu prüfen, ob und ggf. wie weit Ausländer (der verschiedensten Nationalitäten) der deutschen Sprache mächtig sind. Dagegen ist es für jeden Ausländer selbstverständlich, daß er verpflichtet ist, mit der fremden Staatsmacht in deren Amtssprache zu verhandeln und dabei notfalls einen Dolmetscher hinzuzuziehen.
Das BVerfG hat in dem angeführten Beschluß 2 BvR 1074/74 ausgeführt, ein Ausländer, dem ein Strafbefehl in deutscher Sprache ohne eine ihm verständliche Belehrung über den Rechtsbehelf des Einspruchs zugestellt worden sei, könne im Falle der Fristversäumnis nicht anders behandelt werden, als wenn die Rechtsmittelbelehrung unterblieben wäre. Damit hat es aber trotz der vielleicht mißverständlichen Formulierung offensichtlich nicht aussprechen wollen, daß (und zwar auch für die unter ganz anderen Voraussetzungen stehenden Verfahren der AO und der FGO) eine Rechtsmittelbelehrung in deutscher Sprache unwirksam sei, was für das abgabenrechtliche und das finanzgerichtliche Verfahren dazu führen müßte, daß die Rechtsbehelfsfrist überhaupt nicht zu laufen begänne (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO, § 55 Abs. 1 Satz 1 FGO), so daß die Gewährung von Nachsicht oder eine Wiedereinsetzung also gar nicht erforderlich wäre. Das zeigt die weitere Bemerkung des BVerfG, der Ausländer müsse so behandelt werden, als wenn die Rechtsmittelbelehrung unterblieben wäre "mit der Folge, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre, wenn die Versäumung der Einspruchsfrist darauf beruht" (Hervorhebungen durch den Senat).
Es sind also offenbar auch nach Ansicht des BVerfG die mit der Ausländereigenschaft zusammenhängenden besonderen Umstände lediglich bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob die Rechtsbehelfsfrist ohne Verschulden versäumt wurde und deshalb Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
2. Die Frage, ob der Kläger die im Gesetz gesetzte Frist schuldhaft versäumt hat und ihm daher Nachsicht zu gewähren war, hat das FG mit einer rechtlich einwandfreien Begründung, die sich der Senat in vollem Umfang zu eigen macht, verneint.
Der mit der Revision unter Hinweis auf den erwähnten BVerfG-Beschluß vorgebrachte Einwand des Klägers, ihm dürfe die Tatsache allein, daß er Ausländer sei, nicht zum Nachteil gereichen, ist nicht begründet. Das FG hat diese Tatsache nicht allein zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, sondern ohne Rechtsirrtum begründet, daß auch ein Ausländer schuldhaft handelt, wenn er so lange untätig bleibt, wie das der Kläger tat.
Es ist Angehörigen aller zivilisierter Staaten bekannt, daß amtliche Verfügungen - der Bescheid war, wie das FG mit Recht ausgeführt hat, als solcher erkennbar - in aller Regel mit rechtlichen Sanktionen bewehrt sind, daß man sich dagegen wenden kann und daß schließlich in der Regel hierfür eine Frist gesetzt ist. Es kann, obschon sich deutsche Behörden, wie oben ausgeführt, an sich der deutschen Sprache als Amtssprache zu bedienen haben, im Rahmen der Prüfung des Verschuldens bei einem Antrag auf Nachsicht allerdings durchaus geboten sein, die Sprachuntüchtigkeit, die Unkenntnis des fremden Rechts und überhaupt eine gewisse Unsicherheit im Verhalten mitzuberücksichtigen. Es kann dahinstehen, ob die Nichtberücksichtigung dieser Umstände ein Verstoß gegen einfaches Recht ist oder aber bei Überschreiten einer gewissen, in der Entscheidung des BVerfG vom 10. Juni 1964 1 BvR 37/63 (BVerfGE 18, 85) charakterisierten Grenze zu einem Verstoß gegen Art. 3 oder Art. 103 GG werden kann und ob damit die Rechtsprechungskompetenz des BVerfG gegeben ist, das, wie es selbst des öfteren, u. a. in dem Beschluß 2 BvR 1074/74 ausgesprochen hat, keine "Superrevisionsinstanz" ist. Es kann auch dahinstehen, ob und inwieweit die Gerichte an den hier vom Kläger angeführten Beschluß des BVerfG 2 BvR 1074/74 gebunden sind. Denn hier liegt ein vergleichbarer Fall nicht vor.
In dem vom BVerfG entschiedenen Falle ging es um einen Strafbefehl wegen Betruges, also wegen einer kriminellen Tat; der Strafbefehl war durch Niederlegung bei der Post zugestellt worden; die Einspruchsfrist betrug nur eine Woche (§ 409 Abs. 1 Nr. 7 der Strafprozeßordnung); der Adressat hatte sich sofort um die Übersetzung des Strafbefehls bemüht und unverzüglich nach Erhalt der Übersetzung einen Anwalt mit der Einlegung des Einspruchs betraut; die Einlegung des Einspruchs mit Wiedereinsetzungsantrag erfolgte trotz aller geschilderten Hindernisse bereits am 12. Tag nach Niederlegung des Strafbefehls bei der Post. Hier dagegen handelt es sich nicht um ein Strafverfahren; die Zustellung erfolgte durch Aushändigung an den Kläger; die Einspruchsfrist betrug einen Monat; der Kläger unternahm wochenlang überhaupt nichts; der Einspruch wurde erst mehr als sieben Wochen nach Zustellung eingelegt. Es kommt hinzu, daß hier der Kläger durch einen Anwalt beraten war.
Unter diesen Umständen kann keine Rede davon sein, daß der Kläger als Ausländer diskriminiert (Art. 3 Abs. 3 GG) oder daß ihm das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verweigert oder daß sein Recht auf ein "faires Verfahren" (BVerfG-Beschluß 2 BvR 1074/74) verkürzt worden wäre. Ebenso besteht bei diesem Sachverhalt kein Anlaß zu prüfen, ob Art. 6, 14 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder Art. 7 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verletzt sein könnten.
Fundstellen
BStBl II 1976, 440 |
BFHE 1976, 294 |
NJW 1976, 1335 |